Andrew ging zur Armee, zeugte sechs Kinder, trainierte, stand und rannte auf seinen Beinen, ohne jemals die Sehnsucht aufzugeben, sie abzuhacken. Schon als Sechsjähriger sah er neidisch den Poliokranken auf ihren Krücken zu, wie sie vermeintlich mehr Liebe und Zuwendung abbekamen. Doch es fand sich kein Chirurg, der ihm seinen Wunsch antun wollte, nur Psychologen, die ihm die Idee auszureden versuchten. Sie halfen ihm nicht.
Kurz nach seinem 50. Geburtstag zwängte Andrew seine Beine in einen Gummistrumpf und packte sie in Trockeneis, bis die Kälte die Blutzufuhr abschnitt. Ein Chirurg sah sich schließlich gezwungen, die abgestorbenen Beine oberhalb der Knie zu amputieren. Erst der beinlose Andrew im Rollstuhl beschrieb sich als »glücklich« und »endlich ganz«. Susie Orbach erzählt Andrews Fall in ihrem neuen Buch Bodies. Ein extremes Beispiel, und doch nicht mehr selten: Tausende diskutieren inzwischen im Internet über die besten Methoden, ihre Arme und Beine loszuwerden. Der Hass auf den eigenen Körper nimmt immer radikalere Formen an. Man darf die Britin Susie Orbach die wohl berühmteste Psychoanalytikerin in London seit Sigmund Freud nennen; sie war die Bulimie-Therapeutin von Prinzessin Diana, hat eine Professur an der London School of Economics, ist Feministin und Autorin. Unter all jenen, die sich beruflich mit den Problemen befassen, die ein Mensch mit seinem Körper hat, kann sie als Kronzeugin gelten: Seit über dreißig Jahren beobachtet, beschreibt, therapiert sie Menschen, die ein ungesundes Verhältnis zu ihrem Körper haben. Und dieses Verhältnis spitzt sich zu.
1978 wurde Orbach mit ihrem Buch Fat is a Feminist Issue bekannt, auf Deutsch heißt es Anti-Diät-Buch, bis heute ein Standardwerk über Esssucht und auch Magersucht bei Frauen. Eine ihrer Thesen, damals so gültig wie heute: Millionen von Frauen hängen an der Alltagsdroge Essen. So lebt, mitten unter uns, eine Gruppe von völlig unauffälligen Süchtigen. Mit allen Konsequenzen einer Sucht. Jeder Fressorgie folgt unweigerlich eine scheinbar unüberwindbare Verzweiflung, Wut und Hilflosigkeit.
Inzwischen aber machen jene, die unter Esssucht leiden – auch die Magersucht ist ja eine Form der Esssucht – nur einen kleinen Teil jener Patienten aus, die täglich in ihrem Therapiezentrum in einem Londoner Vorort sitzen; Bulimikerinnen und Depressive, Selbstmordgefährdete und Einsame kamen in großer Zahl dazu. Und alle leiden sie daran, dass sie ihren Körper nicht leiden können. Eigentlich wollte Susie Orbach höchstens zwei bis drei Patienten pro Tag behandeln, die eine gestörte Beziehung zu ihrem Körper haben, »aber der Körper ist inzwischen mehr oder weniger das Symptom, an dem fast jeder meiner Patienten sein Leiden festmacht. Das ist neu.«
Der perfekte Körper ist zum Synonym für Glück geworden, die Wahrscheinlichkeit, unglücklich zu werden, liegt somit bei fast hundert Prozent. Die Unfähigkeit, ein selbstverständliches, ein unaufgeregtes Verhältnis zum Essen zu finden, hat sich gesteigert zur Unmöglichkeit, ein normales Verhältnis zum eigenen Körper zu finden. Das gilt für viele Frauen, aber die Männer holen rasant auf. Im Grunde führen wir Krieg gegen unseren Körper, er hat sich vom Freund zum Feind gewandelt. »Körperterror«, nennt Susie Orbach diesen Zustand, »wir erleben eine nie dagewesene Hysterie um den Körper, es gilt als normal, ihn nicht zu mögen. Millionen Menschen schämen sich für ihn, kämpfen täglich gegen ihn, weil er sie verstört und verunsichert. Das ist ein immenses Problem und hat nichts mit Eitelkeit zu tun«.
(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Ob Nigeria oder Fidschi - der Körperfetischismus der industrialisierten Welt hat den hintersten Winkel dieser Erde erobert.)
Allein die Obsession, mit der die Welt seit Monaten über Michelle Obamas muskulöse Oberarme diskutiert, zeigt, dass Gesundheit als Maßstab ausgedient hat. Wir arbeiten nicht mehr körperlich, stattdessen glauben wir, uns einen Körper erarbeiten zu müssen. In Michelle Obamas Fall ist die Öffentlichkeit gerade dabei, sich ein Urteil zu bilden, ob sich die Arbeit gelohnt hat und sie in ärmellosen Kleidern vor all die Premierminister und Präsidenten treten darf. Und wie sich ihre entblößten Oberarme zu ihrem Alter verhalten: Darf man mit 45 rumlaufen wie eine Zwanzigjährige? Nicht zuletzt diskutieren wir so aufgeregt, weil wir ahnen, dass ihre Muskeln echt und die Fotos, auf denen wir sie sehen, nicht digital verändert worden sind. Als normal empfinden wir ja inzwischen das Gegenteil, die Täuschung, auch wenn wir sie durchschauen.
Kaum einer, der noch daran glaubt, dass Models, die sich ohnehin schon einer unglaublichen Schönheitsauslese unterziehen mussten, so makellos sind, wie wir sie auf den Titelblättern von Zeitschriften sehen (wenngleich vielleicht nicht jeder weiß, dass allein in einer einzigen Ausgabe der amerikanischen Vogue rund 150 Bilder digital retuschiert und alle Models von jedem Pickel und jeder Falte befreit worden sind). Den Männern geht es nicht viel anders: Was Matt Damon in Das Bourne Ultimatum scheinbar allein durch seine unglaubliche Fitness geschafft hat, kam in Wahrheit mithilfe von 169 Stuntmen und 70 Experten für Spezialeffekte zustande. Das ist kein Geheimnis, das kann jeder nachlesen. Dennoch nehmen wir uns diese Avatare zu Vorbildern, eifern ihnen verzweifelt nach und glauben tatsächlich, dabei Herr unseres Willens zu sein, alle Schinderei freiwillig zu begehen und nicht in die Fangarme der Schönheitsindustrie geraten zu sein.
Das ist vielleicht das grundlegende Paradox des modernen Körperhasses. Es ähnelt zunehmend dem Rennen zwischen Hase und Igel: Mit jeder neuen Methode, einen echten Körper zu formen, zu operieren und zu verändern, hat die Bildbearbeitungstechnik schon wieder neue Wege gefunden, prominente Gesichter noch schöner, noch glamouröser, noch übermenschlicher zu gestalten. Der eigene Körper wird zum Feind, weil er sich nicht so stark formen lässt, wie wir es von ihm fordern. Und die Schuld daran suchen wir bei uns. »Es ist viel ernster, als wir glauben wollen«, sagt Susie Orbach, »genau genommen handelt es sich um einen Gesundheitsnotstand, der Namen trägt wie Selbstzerstörung, Übergewicht, Magersucht, Körperhass und Körperkult oder Fitnesswahn.«
Noch gelten Menschen, die sich wie Andrew nach einer Beinamputation sehnen, als Ausnahme. Aber als die galten bis vor wenigen Jahren auch Frauen und Männer, die sich Fett absaugen oder den Magen verkleinern ließen oder sich einem Facelifting unterzogen. Längst lassen sich Chinesen Metallrohre in die Oberschenkel einsetzen, um bis zu zehn Zentimeter größer zu werden. Schwedinnen dagegen, die sich für zu groß halten, lassen sich die Oberschenkelknochen brechen und zusammenstauchen.
Natürlich versuchen die Menschen seit Hunderten von Jahren schön auszusehen und ihre Körper zu trimmen, sie quälten sich in Korsetts und unter Perücken, sie schminkten sich und banden das Doppelkinn hoch – aber letztlich arbeiteten alle unter den gleichen Bedingungen: Auch Könige hatten keine Computer, mit denen sie ein völlig fehlerfreies Bild ihrer selbst schaffen konnten. Vor allem keines, das sich per Knopfdruck in die Welt hätte verschicken lassen mit der Botschaft: Wenn du so bist wie ich, dann wirst du glücklich sein.
Drei Jahre nachdem das Fernsehen auf Fidschi eingeführt wurde, hingen 11,3 Prozent der Mädchen über den Kloschüsseln, um sich westliche Model-Figuren zu erzwingen; die Hälfte aller jungen Südkoreanerinnen hat sich schon westliche Augenlider schneidern lassen, die Argentinier bekommen ihre Schönheitsoperationen von der Krankenkasse erstattet, in Brasilien bezahlt sie gleich der Staat. In Nigeria begann vor acht Jahren ein nationaler Diät-Wahn, aber erst, nachdem zum ersten Mal eine Nigerianerin zur Miss World gewählt wurde und das 18 Jahre alte Mager-Model auf allen Anzeigetafeln und Magazin-Titeln des Landes prangte. Der Körperfetischismus der industrialisierten Welt hat den hintersten Winkel dieser Erde erobert.
(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Zwei Drittel aller Mädchen auf der ganzen Welt geben an, sie fänden es »schwierig, sich schön zu fühlen, wenn man mit den heutigen Schönheitsidealen konfrontiert ist«.)
Neu daran ist, »dass wir jetzt alle glauben sollen, wir könnten von der Kindheit bis zum Altersheim aussehen wie Angelina Jolie«, sagt Susie Orbach, »mehr noch: Es wird von uns erwartet.« Prominente Frauen, denen es bis zum sechsten Schwangerschaftsmonat gelingt, dünn wie nach einer Nulldiät auszusehen, treiben wieder massenhaft neue Patientinnen in die Esskliniken. Die um Nachschub nicht bangen müssen: Denn wer im Mutterleib hungern muss, hat später eine 30 Prozent höhere Chance, fett zu werden. Und weiß nicht einmal, warum.
Schon sagen 40 Prozent aller Mädchen zwischen sechs und 16 Jahren, sie würden sich gern Fett absaugen lassen. Zwei Drittel aller Mädchen auf der ganzen Welt geben an, sie fänden es »schwierig, sich schön zu fühlen, wenn man mit den heutigen Schönheitsidealen konfrontiert ist«. Jedes dritte Mädchen in Deutschland hat laut Robert-Koch-Institut »ein auffälliges Essverhalten«, schon Siebenjährige mit Diäterfahrung werden in das Frankfurter Zentrum für Essstörungen eingeliefert. Ja, selbst in Altersheimen nimmt die Zahl der Frauen zu, die Symptome langjähriger Essstörungen zeigen.
Den Körper zu terrorisieren ist eine lebenslange Obsession geworden, Susie Orbach hatte selbst Essstörungen, bevor sie in den Siebzigerjahren ihren Bestseller gegen den Diätwahn schrieb. Heute grinst sie, wenn man sie nach ihrem Gewicht fragt, und sagt, sie habe keine Ahnung: »Mit Waagen wiegt man Fische, nicht Menschen.« Zum letzten Mal wurde sie nach der Geburt von Lianna, ihrem zweiten Kind, gewogen. Das war vor 21 Jahren. Ihr Erfolgsrezept für eine normale, gesunde Figur: »Iss, wenn du Hunger hast. Iss, was dir guttut. Hör auf, wenn du satt bist.« So einfach ist das. Wenn es nur so einfach wäre.
Auch Susie Orbach hat man schon zu Verschönerungen geraten: Die Tränensäcke unter ihren dunklen Augen, die vielen Lachfältchen, die scharfen Kerben neben der kantigen Nase, da könnte man schon was machen. »Ich sehe aus wie die 62 Jahre, die ich bin«, sagt sie lachend und schiebt ihre Normalfigur in dem bequemen schwarzen Strickkleid noch ein Stück aufrechter auf die Stuhlkante. Selbst auf Psychotherapeuten-Kongressen stellt sie fest, »dass ich mit meinem unbearbeiteten Körper old school bin«. Ihre Kollegen halten es für normal, sich die eine oder andere OP zu gönnen, und ermuntern auch ihre Patienten.
»Sicher kann eine Schönheitsoperation einen Menschen kurzfristig selbstbewusster machen« – aber weil unser Körper nicht funktioniert wie eine alte Küche, die man renovieren kann, fühlt man sich in
seinem neuen Körper auf Dauer genauso unsicher wie in seinem alten. »Dabei sollten wir ihn bewohnen wie ein bequemes Sofa oder ein gemütliches Haus.«
Das wäre ein schönes Schlusswort: den eigenen Körper zu bewohnen wie ein gemütliches Haus, ihn mit Liebe zu pflegen, ihn nicht zu vergleichen mit dem Townhouse aus der Computersimulation. Aber schon beim Lesen dieser Worte regt sich ja Widerstand, oder?
Fotografie:www.matthieudeluc.com
Fotos: Matthieu Deluc