Echte Freundschaft braucht keine Worte

Zusammen schweigen, ohne dass es peinlich wird – das kann man nur mit ganz besonderen Menschen. Warum geteilte Stille mehr Nähe schafft als jedes Gespräch.

Wenn Menschen einander nichts sagen, heißt das noch lange nicht, sie hätten einander nichts zu sagen.

Illustration: María Medem

Ich kenne meine Freundin Sarah seit mehr als zehn Jahren, und ich kenne sie gut. Das weiß ich, weil wir viel erlebt und viel besprochen haben. Und ich weiß es, weil wir miteinander schweigen können.

Wir schwiegen, als wir uns in Paris bei 35 Grad von einer schattigen Bank zur nächsten schleppten. Wir schwiegen, als wir zufrieden an einem Strand in Italien lagen, nachdem wir uns beim Baden darüber gefreut hatten, wie grellblau das Wasser war, und bevor wir wussten, dass wir unser Karibik-Gefühl einer nahe stehenden Fabrik zu verdanken hatten, die dort Chemikalien ins Mittelmeer kippte. Wir schwiegen in Autos, die uns in andere Länder oder in die nächste Stadt brachten. Bevor Kinofilme begannen, während wir Schokoladenkekse backten, nach Vorlesungen.

Ich weiß nicht mehr, wann wir begannen, miteinander zu schweigen. Aber es läuft immer gleich ab. Eine von uns verstummt für einen kurzen Moment. Vielleicht fällt mir gerade nichts ein, vielleicht ist sie müde, vielleicht schweifen unsere Gedanken ab beim Teigkneten oder Mustern von Passanten. Die andere könnte nun ohne Probleme das Gespräch weiterführen oder ein neues Thema beginnen. Aber sie lässt sich auf das Schweigen ein.

Meistgelesen diese Woche:

Das erlebe ich nicht nur mit Sarah so. Ich kann mit vielen meiner Freunde ausgezeichnet schweigen, Frauen wie Männern. Ich glaube, es gibt keine Form des gemeinsamen Zeitverbringens, die mehr unterschätzt wird. Gemeinhin gilt Stille zwischen zwei Menschen als unangenehm, peinlich oder sogar strafend. Ich fühle mich meinen Freunden in diesen Momenten aber oft am nächsten. Weil wir für ein paar Minuten einfach nebeneinander existieren.

Vielleicht liegt darin der Grund meiner Vorliebe fürs gemeinsame Schweigen. Es erinnert mich an eine Art des Zusammenseins, die meine Freunde und ich als Jugendliche perfektioniert hatten und dann aufgaben, als wir erwachsen wurden oder uns zumindest so fühlen wollten: Abhängen. Nach der Schule saßen wir stundenlang auf Schaukeln oder Sofas, fläzten in Gärten oder Parks. Wir sprachen über die vorige Party oder die nächste Klausur, aber vor allem verbrachten wir viel Zeit stumm miteinander. Es ging nicht darum, was wir machten oder sagten, sondern einfach darum, zusammen zu sein.

Dass Stille wohltuend für unser Nervensystem und unseren Stresspegel ist, haben Forschende schon oft hergeleitet

Mittlerweile ist mein Freundeskreis durch die Arbeit, die Partner, den Sport terminlich so durchgetaktet, dass Verabredungen manchmal Wochen im Voraus geplant und als Zwei-Stunden-Slots in den Kalender einsortiert werden. Bei unseren Treffen müssten wir dann in kürzester Zeit so viele Erlebnisse besprechen, dass sie niedergeschrieben mehrere Buchkapitel füllen könnten. Erzählen wir also für ein paar Minuten keine wilden Geschichten, geben keine Ratschläge und machen keine Späße, sondern schenken einander einfach so unsere Zeit, fühlt sich das wieder ein bisschen so an wie damals, als wir abhingen ohne Sinn oder Ziel. Hier liegt auch der große Unterschied zum Schweigen mit Partnern oder Familienmitgliedern. Verbringt man ohnehin viel Zeit miteinander, schweigt man auch automatisch viel. Ist die gemeinsame Zeit rar, bedeuten ein paar scheinbar ungenutzte Minuten umso mehr.

Was wir uns durch sie auch schenken, ist ein Moment Ruhe. Dass Stille wohltuend für unser Nervensystem und unseren Stresspegel ist, haben Forschende schon oft hergeleitet. Besonders in Zeiten von Dauerbeschallung und ständigem Informationsfluss. Kommen wir zur Ruhe, können wir Reize und Eindrücke, Gelerntes und Gesagtes verarbeiten. Eine Studie der Katholischen Hochschule Freiburg hat außerdem ergeben, dass es uns in der Stille leichter fällt, im Moment zu sein. Ich muss zugeben, dass ich mich selten daran erinnere, was genau meine Freunde zu einem bestimmten Zeitpunkt oder an einem bestimmten Ort gesagt haben. Obwohl wir oft bestärkende, beruhigende, belustigende Gespräche führen. Aber ich erinnere mich meistens genau an die Momente der Stille. Daran, wo wir uns befanden, wie Mimik und Gestik der anderen Person waren und wie ich das Gefühl zwischen uns wahrnahm.

Anfang des Jahres half ich meiner Freundin Lilly dabei, ihre Küchen­fronten himmelblau zu streichen. Wir knieten in abgetragenen Kleidungsstücken auf Malervlies in ihrem Wohnzimmer, vor uns die abgetrennten Fronten. Mehrere Stunden lang vollzogen wir die immer gleiche Bewegungsabfolge, tunken, abrollen, pinseln, tunken, abrollen, pinseln. Sie spitzte die Lippen, ich schob die Zunge zwischen die Zähne. Fast die gesamte Zeit schwiegen wir dabei. Zwar hingen wir jeweils unseren Gedanken nach, aber wir mussten es nicht allein tun.

Und ich erinnere mich deutlich an den Morgen im vergangenen Sommer, als Sarah mich besucht und bei mir übernachtet hatte. Wir waren früh aufgewacht und lagen nebeneinander auf meinem Bett, sie auf dem Rücken, ich auf dem Bauch, vor dem Fenster kündigten die ersten Vögel den Tag an. Dann erzählte sie von dem Todesfall in ihrer erweiterten Familie, der vor Kurzem geschehen war. Sarah sprach bestimmt 20 Minuten lang, unterbrochen von mehreren Pausen. Während dieser Pausen fragte ich nicht nach und kommentierte nicht ihre Erzählungen. Auch hier schwieg ich. Ich hatte das Gefühl, ich konnte am besten für sie da sein, indem ich einfach da war.

Neulich habe ich beide gefragt, wie sich unsere gemeinsamen Schweigemomente für sie anfühlen. Wir wohnen nicht in derselben Stadt, also schickte ich ihnen meine Gedanken als Sprachnachrichten. Sarah antwortete gleich: Für sie drücke das Zulassen der Stille ein Grundvertrauen aus. Lilly ließ sich ein paar Tage Zeit. Dann schrieb sie mir, es gehe ihr genauso. Und wie schön sie es finde, zu wissen, dass ein bisschen Schweigen zwischen uns auch mal digital in Ordnung sei.