Was einem keiner sagt: dass Tafraoute auf der Rückseite des Mondes liegt. Tatsächlich steht immer und überall nur: Tafraoute, eine Berberstadt im Anti-Atlas-Gebirge, im Süden Marokkos, nächster Flughafen: Agadir, zirka zweihundert Straßenkilometer entfernt. Wenn man's genau nimmt, stimmt das natürlich. Aber es ist auch so: zweihundert Kilometer, das kann so gut wie gleich um die Ecke sein. Oder eben auf der Rückseite eines fernen Mondes. So herrlich weit weg von allem ist Tafraoute. Und vielleicht erklärt das schon was. Wenn auch nicht alles.
Zum Beispiel: Einmal, es war 1984, kam einer her, ein Künstler aus Belgien, der nahm 18 Tonnen Farbe, dreißig marokkanische Feuerwehrmänner, ein paar Löschfahrzeuge und -schläuche und zog hinaus in die großartige Granitwüste, einige Kilometer außerhalb der Stadt, um Felsen mit Farbe einzusprühen. Hier einen kleineren, unscheinbaren. Da einen seltsam pilzartigen Brocken. Dort eine meterhohe, glatt gewaschene Wand. Überwiegend in weit leuchtendem UN-Helm-Blau. Mit ein bisschen Rosa dazwischen. Auch mal einer schwarz und einer grün. Über eine Fläche von zwei Quadratkilometern verteilt liegen sie jetzt da, in der meistens sengenden Sonne, und werden blass. Einmal, vor ein paar Jahren, erbarmten sich die Feuerwehrmänner und bemalten sie erneut. Ganz allein. Den Künstler hat seit damals keiner hier wiedergesehen.
Dieser Jean Verame hatte zuvor schon am Berg Sinai Steine blau gemacht. Mit Erlaubnis des damaligen Präsidenten Anwar el-Sadat und einer Zehn-Tonnen-Farbspende der Vereinten Nationen. Blaue Wüste heißt das Kunstwerk dort und sollte dem Frieden in der Region dienen. Es war 1980, das Jahr nach dem Friedensabkommen zwischen Israel und Ägypten. Und wenn man Zweifel an der Notwendigkeit des Werks hatte, konnte man dem Künstler wenigstens seinen Goodwill zugutehalten. 1989 reiste er in den Tschad, nach Tibesti, und malte in deren Wüste die Steine an. dreißig Tonnen Farbe. Dunkelblau. Weiß. Knallrot. Und Violett. Auf seiner Internetseite gibt es ein Bild, das zeigt Herrn Verame vor dem Wunderwerk, in kurzen, blauen Hosen, in der Hand einen weißen Sonnenschirm. Ist das nun Kunst? Oder Blödsinn?
Ich bin mit dem Linienbus hergekommen, fünf Stunden von Inezgane. Einer staubigen, hektischen Vorstadtscheußlichkeit außerhalb Agadirs, Ausgangspunkt für Busse und Taxis nach überall. Ich konnte die Stadt nicht schnell genug hinter mir lassen. Das lag nicht allein an ihrer Armseligkeit, an dem aggressiven Werben der Taxifahrer, an der Verlorenheit zahnloser Greise, die ihre paar Habseligkeiten und Werkzeuge auf einer Decke auf dem Pflaster ausgebreitet hatten und die Hände ausstreckten nach den Beinen der Vorbeieilenden, in der Hoffnung, sie ließen sich vielleicht stoppen und ihre Schuhe besohlen. Es lag nicht einmal an dem offen zur Schau getragenen Misstrauen der Imbisskunden, mit denen ich für ein Calamares-Brötchen und einen Avocado-Smoothie in der Schlange stand. Obwohl, na ja, es trug wohl alles zusammen zu meiner Paranoia oder was es war bei.
Paris war noch nicht lange her. Dann Istanbul, Mali. Am Vortag erst Burkina Faso. Überall Terrortod und Verderben. Das Auswärtige Amt schätzt, so hatte ich es auf seiner Internetseite gelesen, Reisen nach Marokko als »riskant« ein und rät zu »umsichtigem Verhalten«. In dem von Islamisten überfallenen Hotel in Mali hatten die Mörder diejenigen Geiseln ziehen lassen, die eine Sure aus dem Koran aufsagen konnten. Ich hatte mir geschworen, mich für Marokko mit einem umsichtigen Sortiment von Suren zu wappnen, und den Vorsatz gleich vergessen. Er fiel mir erst wieder vor dem Abflug ein, als ich, schon hinter der Sicherheitskontrolle, von Burkina Faso las. Jetzt stand ich da, eingezwängt in der Brötchenschlange, auf einem »belebten Platz«, den es laut Auswärtigem Amt »unbedingt zu meiden« galt. Ich fragte mich: Bin ich, was das Auswärtige Amt in seiner Terroropferstatistik als »unumsichtige Reisende« abhaken wird?
Wenigstens war ich nicht allein in meinem Aufruhr. Die Taxifahrer jammerten über Geschäftsverlust: »Keine Touristen in diesem Winter!« Ein plötzlicher Rückzug der Reisenden um fünfzig Prozent! Mindestens! So schätzten die Fahrer. Auf die Frage nach Gründen runzelten sie die Stirn und konzentrierten sich auf den Verkehr. Wiegten den Kopf. Bissen die Zähne zusammen. Einmal presste einer hervor: »Paris!« Das T-Wort sprach keiner aus.
Zweimal schreckte ich in meiner Hotelnacht in Agadir aus dem Schlaf. Die Türen sind aus Metall. Wenn sie ins Schloss schlagen, knallt das wie ein Schuss.
Wegen alledem also hatte ich gedacht: Nix wie weg! Wenn auch ein wenig beschämt. Im Bus war dann aber alles gut. Man fuhr nur. Und fuhr. Durch eine Steinöde, flach und ereignislos, sie erstreckte sich über die erste Stunde bis Tiznit. Einmal stakste erhabenen und schnellen Schritts eine Dromedarherde vorbei. Zehn, vielleicht 15 Tiere. Dass ich vor Begeisterung quiekte, veranlasste den ergrauten Franzosen in der Sitzreihe neben mir zu einem verächtlichen Schnauben, und ich verstand: Pah! Dieser hier hatte schon Tausende Dromedare gesehen! Hinter Tiznit, dem einzigen Klostopp, begann das Gebirge. Karg, großartig. Eine endlose Wellenlandschaft aus rotem Fels. Durch dieses Anderland bewegte der Bus sich auf und ab und in engen Serpentinen. Vor den Kurven hupte der Fahrer, um einen eventuellen, noch unsichtbaren Entgegenkommer zu warnen. Und ich dachte, wie schön es wäre, würde er auch ein wenig langsamer fahren und dem Entgegenkommer so Zeit geben, auf das Hupen zu reagieren. Aber vielleicht war das egal. Denn wir waren der Bus. Und die anderen nur ein antiker Peugeot. Oder ein kleiner R4.
Die sinkende Sonne tauchte die Felsen in ein Licht, das die Landschaft noch röter, noch großartiger machte, als ich es für möglich gehalten hätte. Als wir einfuhren in Tafraoute, war jenseits der Stadt alles dunkel.
Jetzt ist Morgen. Mein erster auf dem Mond. Meine Gastgeberin, Bouchra Hani, serviert das Frühstück auf ihrer Dachterrasse. Vor den Felswänden ringsherum hängt noch ein Schleier aus Dunst. In der Stadt unter uns kräht ein Hahn. »Sind Sie auch mit dem Bus gekommen?«, fragt das schwule Paar aus Devon, Südengland. Ah ja, und mit welchem? Ich lerne: Ich habe den falschen genommen. Den gemütlichen. Reisebusartigen. Den Bus für Anfänger, Weicheier. Die beiden alten Herren nehmen immer nur den Lokalbus. Den kleinen, grünen. Mit den zerrissenen Vorhängen und der dicken Luft. In jeder Hinsicht. Der Herr mit der Brille lacht: »In dem spielt sich jedesmal ein tolles Drama ab! Jemand tobt rum. Oder weint. Oder beides. Garantiert!« Der Dicke-Luft-Bus braucht von Agadir zwanzig Stunden. Die beiden Herren schwören, die Dramagarantie sei ihnen jede Minute wert. Sie fahren mit ihm jeden Winter zwölf Wochen kreuz und quer durch Südmarokko. Seit sie Rentner sind, seit acht Jahren, in jedem Winter. Der Herr ohne Brille sagt: »Die drei Monate hier, mit allem Drum und Dran, kosten mich gerade so viel, wie ich zu Hause allein für Heizöl zahlen müsste.« Und ich denke: So muss man's machen!
Ich will raus, zu Verames blauen Felsen. Wie weit sind die von hier? Bouchra Hani lacht: »Ach, die Felsen.« Gleich hinter dem Berg dort. Sechs Kilometer. Oder sieben. »Man kann bequem zu Fuß gehen.« Die Berber gehen überhaupt überall hin. Zur Arbeit. Nach Hause. Zum Gebet. Ständig kommt einem einer von ihnen entgegen. Männer allein, Frauen in Gruppen. »Ça va?!«, rufen sie. Wie geht’s? Dann heben die Frauen eine Ecke des schwarzen Umhangs vor ihren Mund und kichern.
»Man kann auch mit dem Fahrrad hinfahren«, sagt Bouchra Hani. Fahrräder verleiht Said Oussidi. Nur ein paar Meter die Straße vor Hanis Haus hinauf. »Aber du musst vorsichtig sein. Sonst verkauft er dir einen Teppich.« Ich lache. Keine Sorge. Ich bin mit dem Anfängerbus hergekommen, aber ich bin kein Weichei. Ich habe Familie in Kroatien, bitte, ich weiß, wie man keinen Teppich kauft: Fokussiert bleiben. Freundlich. Zur Not knallhart. Auf der Straße, in unmittelbarer Nähe zu seinem Laden, wartet schon Oussidi. In Turban und goldfarbener Djellaba. Oussidi spricht Deutsch. »Gelernt von Leut wie eusch.« Den Touristen. Natürlich, Oussidi versteht: Ich will keinen Teppich! Ich will zu den blauen Steinen. Mit dem Fahrrad? Oder, viel komfortabler, mit dem Jeep? Was will ich überhaupt bei den Steinen? Da ist nicht viel los. Blau sind die, ach ja, und gerade sind auch noch die Hippies da. Machen Musik, wie in jedem Jahr. Viel Lärm. Viel Dreck. Oussidi sagt: »Lieber ein schönes Tour mit dem Jeep in de Wüst!« Oussidi ist weltweit anerkannter Experte für Wüstentouren. Der beste! Hier bitte, ein Reiseführer hats über ihn geschrieben. Ich lese laut: »Die Verkäufer vom Maison Touareg, in ihrem traditionellen Outfit, sprechen überall in der Stadt Touristen an, was nervig sein kann.« Oussidi kichert. »Nervig, jaja.« Oussidi sagt: »Eben schnell reinkommen, schauen, meine Teppiche sind allerbeste Qualität!«
Mein Fahrrad leihe ich schließlich auf der anderen Seite der Stadt, bei Hicham Anajah. Der keine Teppiche verkauft. Und keine Wüstentouren. Der kein Touareg-Gewand spazieren trägt. Der nur Fahrräder verleiht. Zweimal so teuer wie Oussidis. An ihnen kann es nicht liegen, dass die Straßen sich steiler anfühlen als von Anajah versprochen. Und die Wintersonne heißer als jeder Einheimische sie empfindet.
Während ich die Straßen des Anti-Atlas hinaufächze und meine Arme im T-Shirt verbrennen, kommt mir einer in dicker Lammfelljacke entgegen. Zugeknöpft bis zum Hals. Trägt zwei Wollmützen übereinander. Ich muss an den Dokumentarfilm von neulich denken, über drei Journalisten, die die gesamte Länge des Nils entlangwanderten. In Uganda wateten sie durch ein bisschen Steppe, dann ein Sumpfgebiet, fünfzig Grad im Schatten. Dem einen ging es bald schlecht, dann schlechter, in der nächsten Szene war er tot. Hitzschlag. Live im Fernsehen gestorben. Und ich stelle mir vor, wie ich hier Schlagzeilen machen werde: »Touristin stirbt bei 25 Grad den Hitzetod«.
Im Sommer wird es nahezu doppelt so heiß. Das hält keiner aus, der hier nicht geboren ist. Von Mai bis Anfang Oktober ist mit Touristen kein Geschäft zu machen. Darum wartet Oussidi auf mich. Jeden Morgen. Jeden Abend. Und weil ich, um ihm zu entkommen, von Anajah das Fahrrad lieh. Ein Rad von 1-a-Qualität: »Ganz leicht zu fahren. Die kleine Steigung damit kein Problem.« Ich schwitze und keuche wie andere in Uganda. Der im Lammfell ruft froh: »Ça va?!«
Und dann liegen sie da, Jean Verames Steine. Blau, rosa, weiß. Verblasst. Übermalt. Bekritzelt. Einer hat die Magie des Ortes nicht erkannt oder sie überbieten wollen und ganz hoch oben auf Verames größten Brocken geschissen. Andere begnügten sich damit, ihre Namen über das Blau zu sprühen und sie mit Herzen zu rahmen. Old School. Wieder andere haben in den Steinwunderlingen Gestalten entdeckt und ihnen an strategischen Stellen Augen und Ohren gemalt. Das sah überraschend lustig aus. Was war Kunst? Was nur Blödsinn?
Oder: Waren diese Fragen so überflüssig wie Jean Verames Farbe? Gab es wichtigere Dinge zu klären? Ich zum Beispiel wäre für meinen Teil froh, wenn ich wüsste, warum ich mit einem Teppich nach Hause fuhr.
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Essen: Im »Snack Kraminssn« an der Hauptstraße gibt es die Berber-Tajine für umgerechnet vier Euro, dazu kostenlos einen kleinen, undefinierbaren, meistens köstlichen Snack. Unverzichtbar: der Avocado-Smoothie mit Milch und frisch gepresstem Orangensaft.
Wohnen: Günstig und familiär im »Maison Tigmi Ozro«, knapp außerhalb des Zentrums. Von der Dachterrasse blickt man auf die Felswände des Anti-Atlas-Gebirges. An ruhigen Abenden sieht man hinterm Haus mit Glück einen Schakal laufen.
Sehen: Aït Mansour: In der Schlucht mit Palmenwäldern und orangeroten Felswänden fühlt man sich wie in »Jurassic Park«. Sie liegt 30 Kilometer von Tafraoute. Nach Aït Mansour kommt man zum Festpreis mit den Fahrern des »Maison du Troc«.
Foto: Manuel Litran/Paris Match (Gettyimages)