20. März 1999
(Hans-Jürgen K., *1957) Nicht ich habe die Erinnerung mitgenommen, die Erinnerung hat mich mitgenommen, schwebt ständig wie ein Geist, wie ein Gast aus einer anderen Zeit stumm neben mir und will mich permanent an etwas erinnern, an das ich mich nicht erinnern will. Gut, denke ich, wenn sie es so haben will, so wollen wir doch mal sehen, wer hier der Stärkere ist. Entschlossener als jemals zuvor nehme ich wieder meine Schritte auf (eigenartige Formulierung „die Schritte aufnehmen“) und begebe mich mitten in das heftigste Menschengewühl, das eine mittlere Großstadt wie Freiburg um 14 Uhr nachmittags zu bieten hat. Das wirkt immer. Das rastlose Gedränge und Geschiebe Tausender lebloser Fleischsäcke, die in verwebten Fetzen pflanzlicher und chemischer Fasern zu stecken beliebten/beleibten; das tonlose Blöken aus Hunderten Münder, die gierigen Gesichter mit den leeren Augen, die stumpfen Blicke – Haß, Angst, Neid, Unmut, Ungeduld, Flucht, Gewalt – die ganze Palette intensiver Gefühle treibt sie zuverlässig in mir auf. Überfällt mich wie eine lange verschleppte Krankheit, die nach einem allzu erholsamen Schlaf endlich herausbricht. Guten Morgen. Hier sind wir wieder, Egon, Zenon, Abdomen. Wild kreisen die Gedanken, fahren Karussell im fauligen Innern der Schädelhöhle – aber da ist sie doch wieder, diese Erinnerung; banal wie ein Schatten, den man nicht überspringen kann. Anders als zuvor, aber unverkennbar. Zäh, zäh, klebrig, und nicht abzuwaschen, wie besonders feines Schmieröl.
Tagebuch: 20. März 1999
Und immer wieder Frühling: 100 Jahre Zeitgeschichte in privaten Notizen.