Der Traum vom ewigen Lehm

Die Bauindustrie gehört zu den größten Zerstörern der Erde. Die Architektin Anna Heringer aber hat sich auf einen Baustoff spezialisiert, der Jahrhunderte überdauert und immer wieder neu verwendet wird. Die Frage ist nur, ob er sich in der westlichen Architektur durchsetzen kann.

In der Architektur waren Frauen lange fast unsichtbar. Architektinnen wie Anna Heringer ändern das gerade.

Foto: Sima Dehgani

Die Wohnung lebt durch die Wand. Feine dunkle ­Linien ziehen sich wie kalligrafische Zeichnungen auf der hellbraunen Fläche elegant bis unters Dach. Die Wand ist aus Stampflehm. Die verschiedenen Pigmentstreifen entstanden durch eingestampfte Erden aus unterschiedlichen Orten. Ganz weich und warm wirkt das. Und doch trägt das Material der Wand sicher diese lichte Dachgeschosswohnung. »In dem Moment, wo ich meine Hände im Lehm hatte, war das für mich wie ein Heureka-Effekt, der Missing Link«, sagt Anna Heringer. Die 44-jährige Architektin hat sich und ihrer Familie die Wohnung gebaut und in die Lehmwand Erden aus den Orten ihrer Projekte eingearbeitet, aus Bangladesch und Südafrika etwa. Den kubischen Entwurf setzte Heringer auf ein mittelalterliches Stadthaus. Was gegensätzlich klingt, Lehm und Stein, passt wie angegossen. Anders gesagt: Mit dem Lehmausbau positionierte Heringer das Steinhaus in der Gegenwart.

Das Gebäude im oberbayerischen Städtchen Laufen ist eines der wenigen, die von der international gefeierten Architektin in Deutschland existieren. Kaum jemand dürfte in den vergangenen Jahren so viele Auszeichnungen für ihre Arbeit bekommen haben wie Anna Heringer. Sie gilt als Pionierin im Lehmbau. Gleich ihr erstes Werk überhaupt, ihre Diplomarbeit, ein Schulbau aus Lehm und Bambus in Bangladesch, wurde 2007 mit dem Aga Khan Award ausgezeichnet und brachte ihr weltweit Anerkennung. Seitdem fand kaum eine Architekturbiennale in Venedig mehr ohne einen Beitrag von ihr statt. Die wichtigsten Architekturmagazine beleuchteten ihr Werk. Heringer lehrte in Harvard und an der ETH in Zürich, zwei der weltweit renommiertesten Ausbildungsstättenfür angehende Architektinnen und Architekten, heute unterrichtet sie in Liechtenstein. Bei bedeutenden Architekturkongressen steht ihr Name ziemlich sicher auf der Liste der Vortragenden. Ihren TED-Talk sahen sich mehr als eine Million Menschen an. Bei ihrem ersten großen Projekt in Deutschland allerdings, dem Campus St. Michael in Traunstein, drehen sich gerade erst die Kräne. Die Arbeiten am Fundament haben be­gonnen.

Warum stehen die Gebäude einer solchen Architektin in Bangladesch, China und Afrika, aber nicht in Deutschland? Das erzählt wenig über Heringers Können und viel über das Dilemma unserer Baukultur. Denn die Architektur wäre gern anders, innovativ, ökologisch, nachhaltig, sozial. Das feiert die Szene mit Preisen, Reden, Konferenzen. Tatsächlich aber gehört die Bauindustrie zu den größten Zerstörern des Planeten. Gebäude sind Brandbeschleuniger der Klimakatastrophe, weil sie weltweit für 40 Prozent der energiebezogenen CO2-Emissionen verantwortlich sind. Sie zu errichten gleicht einer Materialschlacht. Außerdem vertiefen Neubauten die Spaltung zwischen Arm und Reich, weil Luxusprojekte bezahlbaren Raum zum Wohnen und Arbeiten verdrängen.

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Anna Heringers Architektur sieht anders aus. Anandaloy, ein ­Therapiezentrum in Bangladesch für Menschen mit Behinderung, mit angeschlossener Textilwerkstatt, entfaltet sich kraftvoll wie ein Adler zwischen hohen Palmen. In ihrer preisgekrönten METI-Schule können sich die Kinder zum Lesen in ein verschlungenes System aus Höhlen und Nischen aus Lehm zurückziehen. Der Prototyp für ­einen Gebärraum in Vorarlberg wirkt wie ein verwunschenes ­Schneckenhaus und der Konferenzraum für ein internationales ­Energieunternehmen in Österreich wie eine märchenhafte Grotte. Fantastisch und archaisch zugleich könnte man die Formensprache von Anna Heringer beschreiben – oder auch als das Gegenteil von dem, was seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts als moderne Architektur seinen Siegeszug feiert. Gute Architektur verbinden viele seither mit geometrisch schlichten Baukörpern, mit rechten Winkeln, symmetrischen Achsen und vor allem mit Beton.

Bei Anna Heringer fing es mit Lehm an. Was insoweit passt, da es der älteste Baustoff der Menschheit ist. Die Erde dafür ist überall verfügbar und mit Wasser und Arbeitskraft in ein Material zu verwandeln, das in Form gebracht Jahrhunderte überdauern kann, wie etwa die bis zu 25 Meter hohen Lehmhochhäuser im Jemen, dem Manhattan der Wüste, seit 400 Jahren beweisen. Heute lebt ein Drittel der Menschheit in Gebäuden aus Lehm. »Ich war schon immer an Lehm interessiert, dachte aber, das ist eine Hippie-Fantasie von mir«, erzählt Heringer in ihrem Büro in Laufen. Sie empfängt in Jeans, alten Cowboystiefeln und einem bunt schillernden Oberteil aus Seide. Ein ähnlicher Stoff hängt wie ein Gemälde hinter ihr an der Wand. Heringer betreibt in Rudrapur, dem Dorf ihrer METI-Schule, eine eigene Textilwerkstatt, damit die Näherinnen im Ort ihr Geld verdienen können und nicht in die Stadt umziehen müssen. Aus wiederverwerteten Saris entstehen dort Kleidungsstücke, manchmal aber auch der Masterplan für ein neues Projekt. Der Stoff an der Wand in Laufen zeigt den Grundriss eines Flüchtlingscamps in Bangladesch, für das Heringer gerade Strategien entwickelt, wie man dort Lehmunterkünfte im großen Maßstab entwickeln kann.

Entstehen in anderen Architekturbüros die Entwürfe oft am Computer, fängt bei Anna Heringer alles mit Lehm an.

»Clay Storming« nennt sie das Verfahren, in dem sich die ersten schnellen Ideen mit den Händen statt im Kopf entwickeln.

Sowieso wirkt der lang gestreckte Raum unter dem mittelalterlichen Gewölbe nicht wie ein klassisches Architekturbüro. Eher wie ein Künstleratelier, in das sich ein paar Schreibtische verirrt haben. Computer sieht man bloß drei, dafür viele Tonmodelle, die auf einer Werkbank abgestellt sind – ­Heringer entwirft nicht am Computer, sondern mit Ton. Außerdem zeugt überall Handgemachtes aus aller Welt von Heringers Reisen. Vor der Corona-Pandemie war die Architektin nie länger als eine Woche am Stück in Laufen, einem 7000-Einwohner-Ort an der Salzach, der eine Miniaturausgabe des 20 Kilometer entfernten Salzburgs sein könnte, mit ­jahrhundertealten Steinhäusern in bunten ­Farben und flachen Dächern, die sich windschief aneinanderlehnen. Lehmbauten kannte Heringer vor allem von ihrem freiwilligen sozia­len Jahr in Rudrapur, Bangladesch, das sie nach dem Abitur absolvierte – bei einer NGO, die sich für nachhaltige Arbeitsstrukturen einsetzt. In ihrem Architekturstudium in Linz war Lehm dann kein Thema, auch im Architekturdiskurs der Nullerjahre, in den Vorträgen, Zeitschriften und Konferenzen kam der Baustoff so gut wie nicht vor.

Heringer war schon dabei, die Idee mit ­dem Lehm zu begraben, als sie kurz vor ­ihrem Abschluss »die klassische Vordiploms-­Depression« befiel, wie sie sagt. Mit Bauchschmerzen und Sinnkrise: »Ich konnte mir nicht vorstellen, normale Architektur zu machen.« Die Rettung brachte ein Workshop bei dem Vorarlberger Künstler, Lehm­bau­experten und Keramiker Martin Rauch über Stampflehm: »Das Material hat mich in seiner Schönheit gereizt«, sagt Heringer. »Gleichzeitig ist es sozial, weil man da-mit sehr viele Arbeitsplätze schaffen kann und jeder Zugang dazu hat. Und hoch­-öko­logisch: Man kann es endlos ohne Qualitätsverlust recyceln und wieder in die ­Natur rückführen, ohne Narben zu hinterlassen.«

Die Klimabilanz der Bauindustrie ist ­miserabel. Beton, der wichtigste Baustoff der modernen Welt, verschlingt durch seine Herstellung enorm viel Energie. Pro Tonne Zement, dem Bindemittel für Sand und Kies im Beton, entstehen rund 600 Kilogramm CO2. Damit verursacht die Zementproduktion bis zu acht Prozent des weltweiten Kohlenstoffdioxidausstoßes, mehr als der gesamte Luftverkehr. Zwar laufen weltweit Forschungen, wie man Beton ökologischer machen könnte, aber bislang lieferten sie wenig überzeugende Ansätze. Wenn Beton recycelt wird, sieht das in der Regel so aus, dass er geschreddert unter dem Straßenbau verschwindet. Mehr als Reste­verwertung ist das nicht. Gleichzeitig rollt die Betonwelle, gerade in Asien und Afrika. In China wurde allein ­zwischen den Jahren 2011 und 2013 so viel Beton verbraucht wie in der gesamten ­Geschichte der USA. Die Verstädterung der Welt fußt auf Beton.

»Wir wissen es alle«, sagt Heringer, und bei dem Thema Beton bekommt ihr weicher oberbayerisch-österreichischer Singsang eine gewisse Härte: Alle wissen, sagt sie, dass die Ressourcen endlich sind und trotzdem weiter betoniert wird und der Boden versiegelt. Dass bei den Baustellen von heute der Sondermüll von morgen entsteht, weil giftige PVC-Schaumstoffplatten zum Dämmen an die Wände geklebt werden. Dass die nachhaltigere Lösung nicht mehr die teurere Variante sein darf, weil sie sonst nur ein paar wenige Öko-Enthusiasten einsetzen, aber nicht die Masse. Im Frühjahr 2019, erzählt Heringer, sagte sie all das auf einer Konferenz in Ägypten auch noch mal den Entscheidungsträgern der Betonindustrie. Dorthin hat-te das Unter­nehmen Holcim, einer der weltweit größten Beton-Produzenten, Fachleute für Nachhaltigkeit eingeladen. »Auf der Abschlussver­anstaltung habe ich Holcim gebeten, die Preise für ­Beton zu erhöhen, damit es endlich eine Kostenwahrheit in der Preisgestaltung von Zement gibt und das CO2 mitberechnet wird. Nur so wird der Baustoff, der ja ein guter ist und den man für das Fundament braucht, sorgsamer eingesetzt werden und nicht mehr in ­diesem Übermaß wie heute.« Die Reaktion? »Ungefähr so wie ­damals, als mir eine Bombe ins Auto geflogen ist.« Das passierte vor etwa zehn Jahren in Dhaka, als die dortige Opposition Bangladesch mit einem Generalstreik lahmlegen wollte und alles, was sich auf den Straßen noch bewegte, attackierte.

In Kairo erhielt Heringer zwar neben eisigen Blicken der Holcim-Vertreter auch viel Applaus, erzählt sie – doch am nächsten Tag habe kaum jemand mehr mit ihr gesehen werden wollen.

Wer Heringers Architektur, ihren Entwurfsprozess und ihre Bauweise heute betrachtet, sieht überall Spuren aus ihrer Pfadfinderzeit

»Wenn ich denke, jetzt halten sie mich alle für verrückt mit dem Lehm, dann gibt mir mein Vater Kraft«, sagt Heringer. Sepp Heringer, Landschaftsarchitekt und Ökologe, ist mittlerweile 80 Jahre alt und ließ sich nie von dem abbringen, was er für richtig hielt. »Warum zapfen wir nicht die Sonne an?«, fragte er bei einer Veranstaltung in Rosenheim in den Siebzigerjahren und traf auf Unverständnis. »Sind wir hier vielleicht in der Sahara?«, kam es zurück. Zusammen­hänge zu erkennen und kritisch zu sein, lernte Anna ­Heringer von ihm, sagt sie ein halbes Jahrhundert später. Inzwischen gibt es auch auf oberbayerischen Haus­dächern Solaranlagen. Das Verständnis des Prinzips »cradle to cradle«, einer konsequenten Kreislaufwirtschaft, wie sie immer mehr Umweltfachleute für die Produktion fordern, brachte ihr ebenfalls der Vater bei. Wenn auch etwas drastisch, wie Anna Heringer erzählt: Wenn Schulfreunde zum Essen kamen, erklärte Sepp Heringer ihnen voller Stolz, dass das meiste auf dem Tisch Eigen­produktion sei – und der Salat »auf den physischen Überresten der Laufener gewachsen ist«. Der Garten der Heringers war früher ein Friedhof. Die Gäste fanden das mitunter gewöhnungsbedürftig, seine Tochter »total normal«, gehörte es für sie doch dazu, im Garten mitzuhelfen und dabei auf Knochen zu stoßen.

»Der Kreislaufgedanke war immer da«, sagt Anna Heringer. Im Bauen wäre er heute, bei immer knapperen Ressourcen und Unmengen von Bauschutt, wichtiger denn je. Doch selbst die Lehre beginnt erst langsam, sich umzujustieren. Lange Zeit war nachhaltiges Bauen nicht mehr als ein Wahlfach im Architekturstudium. Dabei müsse man schon beim Entwurf überlegen, wie jedes Ding für den Bau entnommen und später rückgeführt werden kann, sagt Heringer. »In dem Moment, in dem das Gebäude steht, ist es ein Fremdkörper. Es besetzt den Grund und Boden und versiegelt ihn. Aber es muss die Möglichkeit geben, das rückgängig zu machen.« Beim Lehmbau gehe das ohne Probleme.

Anna Heringers Vater gründete für sie einst eine Pfadfinder-­Organisation in Laufen. Ab da hieß es samstags raus zur Umwelt­arbeit, egal, ob es regnete oder die Sonne schien. »Dieses Erleben in der Gemeinschaft, dass etwas gut für die Natur sein kann und trotzdem Gaudi bereitet, hat mich total geprägt«, sagt Heringer. Ebenso wie die Pfadfinderlager in den Ferien. »Du kommst mit Zeltplanen hin, holst dir ein paar Fichtenrundlinge aus dem Wald, und dann baust du ein kleines Dorf auf mit allem Drum und Dran. Vom Versammlungsplatz bis zu den Duschen und dem Donnerbalken.« Und den Türmen. »Da merkt man erst, wie wichtig die sind: Kein Mensch braucht einen Turm, aber in jedem Lager kann ich mich noch an den Turm erinnern.«

Wer Heringers Architektur, ihren Entwurfsprozess und ihre Bauweise heute betrachtet, sieht überall Spuren aus ihrer Pfadfinderzeit. Auch welche Kraft im Kollektiv steckt, zeigten ihr die temporären Bauten aus nicht viel mehr als Zeltplanen, Holzstangen und Seilen: »Wenn du als kleiner Wölfling am Turmseil ziehst, weißt du natürlich, dass du keinen Schmalz hast. Aber dann stehst du am Ende doch oben. Das war das Tolle: dass man gemerkt hat, was man gemeinsam bewegen kann.« Bei ihrer METI-Schule sei ihr sofort klar gewesen, »dass die Schülerinnen und Schüler da mitbauen dürfen«. Weil es ­die Gemeinschaft stärkt. Aber auch, weil Bauen Selbstermächtigung ist – und zwar in allen Kulturen und Klimazonen. Anna Heringer denkt schon beim Entwerfen daran, wo die Menschen später mit­machen können.

In Worms musste deswegen die Kirchengemeinde ihren Altar selbst stampfen. Heringer und Martin Rauch, mit dem sie oft zusammenarbeitet, hatten den Lehm dafür gleich zur ersten Baubesprechung mitgebracht. »Hierzulande nehmen wir uns viel Kraft vom Bauprozess, indem wir ihn einfach nur delegieren«, sagt Heringer. Für Heringer kann die gemeinsame Arbeit sogar therapeutisch wirken, etwa wenn sie mit Frauen der Volksgruppe Rohingya in Kutupalong, dem größten Flüchtlingscamp der Welt, einem Meer aus Plastikplanen, Probewände aus Lehm baut. »Die sehen, wie sie sich aus dem Dreck herausarbeiten können.«

Wie aus der Erde gewachsen

Meti-Schule: Der Bau aus Lehm und Bambus in Bangladesch machte Heringer berühmt und brachte ihr 2007 einen der wichtigsten Architekturpreise ein, den Aga Khan Award.

Campus St. Michael: Der Campus in Traunstein soll ein Modell für nachhaltiges Leben und Wirtschaften werden. Es ist Heringers erstes Großprojekt in Deutschland.

Raum für Geburt und Sinne: Für das Frauenmuseum Hittisau im Bregenzerwald hat Heringer einen Prototyp für ein Geburtshaus aus Lehm entworfen.

Campus in Ghana: Heringers Bildungscampus in Ghana wird aktuell aus Lehm ­gebaut. Für die Menschen dort war es wichtig zu sehen, dass auch im reichen ­Bayern das gleiche Baumaterial zum Einsatz kommt.

Dipdii Textiles: Zusammen mit der Designerin Veronika Lena Lang entwirft Heringer aus alten, aufbereiteten Saris Kleidungsstücke, die dann von Schneiderinnen im Norden Bangladeschs hergestellt werden.

Fotos: © B.K.S. Inan-Aga Khan award for architecture, Katharina Kohlroser (2), Laurenz Feinig, Dipdii Textiles

Heringer hält ihr Büro klein, sie arbeitet mit nie mehr als einer Handvoll Mitarbeiterinnen, weil ihr das ermöglicht, Aufträge ab­zulehnen. Arbeitet sie nur mit Frauen? »Ja. Wir fühlen uns wohl so.« Auch weil sie in Sitzungen oft nur von Männern umgeben sei. Die Architekturwelt ist nach wie vor männlich dominiert, die Egos sind groß. Im Studium fehlten Heringer die weiblichen Vorbilder – bis sie auf die drei Finninnen Saija Hollmén, Jenni Reuter und Helena Sandman stieß. Die Architektinnen haben viel in Afrika gebaut und gezeigt, wie wichtig gute Architektur auch in armen Ländern ist. »Ihr Buch war meine Bibel«, sagt Heringer. »Als ich anfing, war das Bauen in Entwicklungsländern ausschließlich Ingenieurswesen, wo es nur darum ging, dass etwas funktioniert. Das ist, als würde man jemandem empathielos eine Medizin verabreichen.« Den Menschen mit ihrer Architektur zu helfen, sie zu berühren, statt sie darüber staunen zu lassen, auch das ist etwas, was man sich in dieser oft kühl glänzenden Sparte erst einmal trauen muss. »Form follows function«, die Formel der modernen Architektur, hat Anna Heringer für sich in »Form follows love« geändert, wie sie sagt. Nicht immer stößt sie damit auf Anerkennung.

»Ihr baut mit Dreck?« Die Frage musste sich Wolfgang Dinglreiter, der Direktor der Stiftung Studienseminar St. Michael und Bauherr des Campus in Traunstein, schon mal anhören. Finanziert von der Diözese München und Freising, entwickelt Heringer vor schönstem Alpenpanorama eines der ers­ten selbsttragenden Stampflehmge­bäude in Europa, einen Campus für katholische, aber auch soziale und ökologische Start-ups, mit Tagungsräumen und öffentlichem Café. Eine Bewährungsprobe, nicht nur für den Baustoff. Es ist mit einem zweistelligen Millionenbetrag als Baubudget das erste Großprojekt von Anna Heringer in Deutschland, wo es allein 3700 für das Bauen relevante Normen gibt. So sehr ihre Projekte im Ausland auch hierzulande gefeiert wurden: Wenn sie Lehmarchitektur für Deutschland vorschlug, stieß sie immer wieder auf Skepsis. Alles schön und gut, hieß es dann, aber unrealistisch. Heringer entgegnet, dass es hier sehr wohl eine Geschichte mit dem Baustoff gebe. »Der Lehm hat eine europäische Bautradi­tion«, sagt sie. »Es gibt nur eine kulturelle Amnesie, die das verdrängt hat.« Fachwerkhäuser zum Beispiel. Auch der Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, fiel der Lehm im vergangenen Jahr nicht ein, als sie einen Aufruf zu einem neuen Europäischen Bauhaus mit umweltfreund­licheren Materialien startete. (Heringer gewann für ihren Lehmbau zusammen mit Martin Rauch trotzdem den durch von der Leyen ausgerufenen New European Bauhaus Award.)

»Es freut mich, dass wir mit unserem Projekt einen so innovativen Baustoff anschieben dürfen«, sagt Wolfgang Dinglreiter kurz vor Weihnachten 2021 in der Aula des Jungeninternats, die corona­bedingt zum Besprechungsraum für das Campus-Projekt umfunk­tioniert wurde. Der Charakter des historischen Gebäudes ist ein Gegensatz zu dem, was in seinem Innenhof gerade entsteht. Wirkt das weiße Ensemble von 1929 mit seiner streng geometrischen Anlage auto­ritär, erscheint Heringers erdfarbener Entwurf aus Lehm auf der Skizze wie eine Umarmung, warm, weich, mit heimeligen tiefen Sitznischen für die Kinder und wild begrüntem Dach. Die Kirche will mit dem Projekt ein Zeichen der Hoffnung setzen, auch für sich selbst. »Man spürt, dass es die Zukunft ist«, sagt Dinglreiter. Er ist längst Lehm-Enthusiast. »Barfuß auf Lehmstampfboden – ein Traum!«, sagt er über seinen ersten Kontakt mit einem Lehmbau, dem Haus Rauch von Martin Rauch in Vorarlberg. »Man muss es nur bezahlen können.«

Womit man beim größten Problem wäre, wenn man mit Lehm bauen will. Der einzige Baustoff, den sich Menschen in vielen Regionen der Welt leisten können, macht die Sache in Deutschland teuer. Etwa 30 Prozent mehr kostet der Einsatz von Lehm im Vergleich zu Beton, schätzt Martin Rauch, der für Firmen wie Ricola und Alnatura bereits große Lehmbauten in der Schweiz und in Deutschland realisiert hat. Denn Lehm erfordert sehr viel Arbeitskraft, und die ist in Europa teuer. Außerdem erfüllt Lehm keine DIN-Norm. Jedes Bauteil muss in Deutschland als Einzelfalllösung geprüft und genehmigt werden. Eine »Sauarbeit für unsere Architekten«, wie Dinglreiter sagt, und extrem zeitaufwendig. Alles, was lange dauert, kostet auf der Baustelle Geld. Und es mangelt an Fachplanern, Ingenieuren, Handwerkern, die Lehm vollends verstehen. »Wenn du nur nach Schema F gehst, musst du viel zu kompliziert bauen«, sagt Heringer – was es noch mal teurer mache. »Dass Baumate­rialien, die weit hertransportiert werden müssen und viel CO2 verbrauchen, billiger sind als das, was kein CO2 produziert, entbehrt jeder Logik.« Da müsse die Politik ­aktiv werden. »Wenn Handwerk wieder leistbar wird, ist es das Logischste, das zu nehmen, was da ist. So ist ja auch unsere Baukultur entstanden«, sagt Heringer.

Das zu nehmen, was da ist, und das Beste daraus zu machen, gilt eben nicht nur bei den Pfadfindern, sondern war auch der rote F­aden für die Entwicklung der gesamten Architekturgeschichte – bis das 20. Jahrhundert die Regel außer Kraft gesetzt hat. Vielleicht ist es an der Zeit, wieder an frühere Zeiten anzuknüpfen. ­