»Wer reich ist, lebt gesünder«

Ein US-Ökonom behauptet: Wirtschaftswachstum ist nicht nur gut für den Geldbeutel, sondern auch für die Seele.

SZ-Magazin: Herr Friedman, die Menschen in den USA sind heute reicher als je zuvor. Müssten sie Ihrer Theorie nach auch toleranter sein? Benjamin Friedman: Wenn auch das Wirtschaftswachstum hoch wäre, ja. Aber ich halte uns Amerikaner heute weder für reich noch für tolerant. Das durchschnittliche Haushaltseinkommen in den USA ist in den Jahren 2000 bis 2004 deutlich gefallen, die Zahlen für 2005 und 2006 werden nicht viel anders aussehen. Wir befinden uns mitten in einer Phase wirtschaftlicher Stagnation. Meiner Theorie nach dürften wir während einer Stagnation keinen Fortschritt in der Toleranz der Bevölkerung feststellen. Und ich sehe auch nicht, dass die Menschen toleranter werden würden. Im Gegenteil.
Halten Sie Amerikaner für reicher als Deutsche? In materiellem Sinn ganz gewiss.
Sind Amerikaner deswegen auch toleranter als Deutsche? Um Himmels willen, ich weiß wirklich nicht genug über Deutschland, um darauf zu antworten. Aber, um es deutlich zu sagen: Nicht die Einkommenshöhe einer Gesellschaft lässt meiner Meinung nach Rückschlüsse auf die Moral einer Gesellschaft zu, sondern die Aussicht auf wirtschaftlichen Fortschritt.
Wirtschaftswachstum wirkt sich auch auf die Moral einer Gesellschaft positiv aus, richtig? Vollkommen richtig. Aber nur weil die USA einen höheren Lebensstandard haben, sind sie noch lange nicht toleranter als die Deutschen. Was zählt, ist das wirtschaftliche Wachstum, der Fortschritt des allgemeinen Lebensstandards. Und egal wie reich eine Gesellschaft auch ist, sie ist nie gefeit vor moralischen Rückfällen, sobald diese Entwicklung nicht weitergeht. Bezweifeln Amerikaner also die Evolution, weil die Wirtschaft stagniert? So scharf würde ich das niemals formulieren.
Aber Sie sehen da einen Zusammenhang? Durchaus. Während der Depression in den zwanziger Jahren oder der Stagnation Ende der achtziger Jahre wurde die Evolutionstheorie ebenfalls angegriffen, und als die Wirtschaft sich Ende der neunziger Jahre wieder besserte, verschwand diese Debatte ebenso schnell, wie sie aufgekommen war.
Sie sehen auch einen Zusammenhang zwischen dem Wirtschaftswachstum einer Nation und ihrer Toleranz gegenüber Ausländern. Ja, an der Einwanderungsdebatte lässt sich die Toleranz einer Gesellschaft am besten ablesen. Zurzeit können Sie keine Zeitung aufschlagen, in der es nicht um dieses Thema geht. In den späten achtziger Jahren hatten wir viele Gesetzesvorschläge zur Einschränkung der Einwanderung, Mitte der neunziger Jahre flaute diese Debatte wieder ab. Und im Jahr 2000 gab es nur einen einzigen Präsidentschaftsbewerber, Pat Buchanan, der gegen Einwanderer Stimmung machte – und selbst bei den Republikanern damit durchfiel. Heute nimmt die Agitation gegen Einwanderer wieder zu. Ein anderes Beispiel, das den moralischen Verfall bei wirtschaftlicher Stagnation illustriert, ist die abnehmende Spendenbereitschaft, die abnehmende Großzügigkeit den Bedürftigen der Gesellschaft gegenüber. Steuererleichterungen für die Wohlhabenden werden durch Kürzungen im Sozialbereich finanziert. Es gab sogar vereinzelte Vorschläge, den Wiederaufbau von New Orleans durch solche Einsparungen bei den Armen zu bezahlen.

Wirtschaftswachstum bringt immer auch moralischen Nutzen mit sich. Welchen Nutzen meinen Sie? Der Nutzen für die Gesellschaft zeigt sich an vier Punkten: Wie durchlässig ist eine Gesellschaft, das heißt, erreichen nur die Kinder aus gutem Hause die Top-Positionen einer Gesellschaft? Zweitens: Wie groß ist die Toleranz gegenüber Minderheiten, in den USA gegenüber Schwarzen und Einwanderern? Drittens: Wie groß ist die Hilfsbereitschaft gegenüber den Armen? Viertens: Wie stark sind die demokratischen Institutionen? Stagniert die Wirtschaft, wird man das auch über kurz oder lang an diesen vier Aspekten gesellschaftlicher Moral bemerken.
Wie sind Sie denn auf die Idee gekommen, einen Zusammenhang zwischen der Moral einer Gesellschaft und ihrem Wirtschaftswachstum zu suchen? In armen Ländern ist dieser Zusammenhang doch offensichtlich: Wer reich ist, lebt gesünder und länger. Reichtum heißt auch immer eine geringere Kindersterblichkeit. Erst in wohlhabenderen Ländern geht dieser Zusammenhang verloren und man fragt sich, warum es eigentlich erheblich ist, dass der Lebensstandard der Menschen und die Wirtschaft beispielsweise Portugals weiter auf den Stand von Deutschland wachsen sollen. Die Antwort ist eben: Weil wir alle noch toleranter, noch liberaler, noch demokratischer werden wollen. Ich war sehr erstaunt, dass sich in einer Wirtschaftsnation niemand diese Frage gestellt hatte, bevor ich mein Buch schrieb.
Bleibt nur noch die Frage, wie wir in Deutschland mehr Wachstum bekommen. Ich bin kein Experte für Deutschland, aber ich könnte mir vorstellen, dass es ähnlich wie in den USA funktioniert: Man muss die Bildungssysteme verbessern, besonders für Kinder aus Familien, die man nicht einmal der Arbeiterklasse zurechnen kann, weil dort niemand mehr Arbeit hat. Diese Kinder sind ohne eigenes Verschulden sehr benachteiligt. Aber sobald man sie besser auf dem Bildungsweg unterstützt, erzielt man große wirtschaftliche, aber auch soziale Erfolge hinsichtlich beispielsweise Jugendkriminalität oder ungewollter Teenagerschwangerschaft. Solche Programme sind teuer, aber sie funktionieren. Der Wirtschaftswissenschaftler Benjamin Friedman, 61, lehrt an der Harvard University in Boston. Sein Buch »The Moral Consequences of Economic Growth« ist im Verlag Alfred A. Knopf, USA, erschienen.