Es hat bisweilen etwas tief Anrührendes, wie Menschen versuchen, dem Leben einen Sinn zu geben, wie sie um ihre Existenz kämpfen und die Angst vor dem Nichts zu besiegen versuchen. In dem Ort Westlake/Ohio hat sich die Putzfrau Sue Warren Zugang zum Heim der Familie Bush verschafft, sie brach dort also ein, räumte ein wenig auf, reinigte mehrere Kaffeetassen, säuberte dies und jenes, hinterließ eine Rechnung über 75 Dollar, ihren Namen und ihre Telefonnummer und ging wieder ihrer Wege.
Ist das nicht wunderbar? Dass hier jemand in einem sehr großen Land auf diese Weise seine Taten sprechen lässt und mit ihnen sagt: Sehr ihr nicht, dass ich gebraucht werde? Hier bin ich, ich brauche Arbeit, ich benötige Geld; auf der anderen Seite befindet sich hier ein Haus mit schmutzigen Kaffeetassen – da liegt es doch nahe, dass ich mich der Sache annehme, die Welt zu ihren Gunsten und zum Besten ihrer Bewohner verändere und dafür meinen Teil verlange oder jedenfalls erbitte.
Was wäre, wenn dieses Beispiel Schule machte? Wenn also Bürger mit Zeit und Ordnungssinn die Straßen ihres Viertels zu reinigen begännen und der Verwaltung dafür eine Kostennote zukommen ließen? Wenn arbeitslose Schlecker-Verkäuferinnen Kaufhäuser beträten und dort mit der Beratung begännen, gegen Erfolgshonorar? Wenn ein unbekannter Mann der Tat von den Stadionrängen auf den Rasen eilte, einen mutlosen Elfmeterschützen beiseiteschöbe und statt seiner den Torhüter bezwänge?
Na ja, das geht natürlich alles nicht. Es ist ja auch in Westlake/Ohio nicht erlaubt, und Sue Warren muss mit einem Verfahren rechnen. Andererseits: Ist es nicht auch schön, wenn man heimkommt, über einen Einbruch erschrickt, dann aber entdeckt, dass die Einbrecher nichts stahlen, sondern etwas hinzufügten, Sauberkeit nämlich?
Vielleicht sollte man Sue Warrens Tat einfach als Kunstprojekt sehen, als Spiel mit Erlaubtem und Verbotenem, mit der Wirklichkeit. Mein Gott, es gibt so viele Kunstprojekte, zurzeit! Da kommt es auf eines mehr oder weniger nicht an.
In New York haben hundert Menschen auf dem Parkplatz eines Einkaufszentrums gleichzeitig den Panic-Button ihrer Autoschlüssel gedrückt und so die Sirenen ihrer Fahrzeuge ausgelöst, dies in Zusammenarbeit mit dem Guggenheim-Museum: eine Car Alarm Symphony und natürlich, wie der Initiator sagte und die anderen Besucher des Parkplatzes sehr stark hofften, »eine einzigartige Erfahrung«.
In der Londoner Hayward Gallery eröffnete diese Woche eine Ausstellung mit unsichtbaren Kunstobjekten: ein leerer Sockel zum Beispiel, den einst Andy Warhol kurz betrat (da geht es natürlich um die Erkundung des Ruhms und seiner Natur), oder ein weißes Stück Papier, das der Künstler Tom Friedman über fünf Jahre immer mal wieder angeguckt hat, oh, wie viel leeres Papier und wie viele blanke Bildschirme habe ich schon angestarrt im Leben, ja, ich denke darüber nach, einmal ein Buch zu veröffentlichen mit allen leeren Seiten, die ich je anglotzte, eine Erkundung der Natur meines Hirnes.
In Kassel hat die documenta begonnen, deren Chefin in großer Ernsthaftigkeit über die prinzipielle Gleichrangigkeit der Hunde, der Menschen sowie der Atome in ihrem Arm-reif nachdenkt, auch über das Bewusstsein von Erdbeeren, eine Frage übrigens, über die ich zuletzt mit fünf Jahren grübelte (»Mama, tut es der Erdbeere weh, wenn ich von ihr abbeiße?«). Aber das kann ja auch bedeuten, dass man nur als Kind über die wirklich wichtigen Fragen nachdenkt. Oder eben als documenta-Chefin.
Na ja, soweit dies alles. Während der vergangenen Stunden habe ich eine Seite gefüllt und zwei Tassen Kaffee geleert. Die Frage ist nun, wer die Tassen (also die mir gleichrangigen Atome dieser Tassen!!!) abspült. Ich sehe es irgendwie als künstlerisches Projekt.
Illustration: Dirk Schmidt