Wenn ich alles richtig verstanden habe, geht es den Datensammlern in den Geheimdiensten und Internet-Unternehmen, über die man jetzt so viel liest, im Kern nicht darum, was wir in der Vergangenheit getan haben, sondern um unsere Absichten in der Zukunft. Jeder Einzelne soll zu einer berechenbaren Größe werden, indem man so viel, wie es irgend geht, über ihn in Erfahrung bringt, um daraus Schlüsse über seine Zukunft zu ziehen.
In der Zeitung stand das Beispiel jener amerikanischen Drogeriekette, die herausfand, dass schwangere Frauen im dritten Monat oft unparfümierte Bodylotion kaufen, einige Wochen später Magnesium, Kalzium und Zink. So kann man den Zeitpunkt ihrer Niederkunft errechnen und ihnen pünktlich Werbung über Babywindeln zukommen lassen.
Das ist der Stand der Dinge. Es ist natürlich erst der Anfang. Im Prinzip geht es darum, für jeden von uns ein statistisches Ich zu konstruieren, eine vom Computer mit immer neuen Informationen gefütterte und gepflegte Figur, über die man Vorhersagen machen kann. So ist das heute schon, wenn man Bücher oder sonst etwas bei Amazon kauft: die Art des dort Erworbenen veranlasst die Firma, einem bei der nächsten Anmeldung Angebote zu machen: was Sie interessieren könnte.
Das ist natürlich noch sehr vage. In hundert Jahren bekommt man die Bücher einfach geschickt, weil der Computer, bevor wir selbst es nur vage ahnen, schon weiß, dass wir sie lesen werden. Wobei es in hundert Jahren keine Bücher mehr geben wird, also anderes Beispiel: Man wird unseren Medikamenten- und Alkoholverbrauch so genau beobachten und mit individuellen genetischen Gegebenheiten abgleichen, dass eines Tages auf dem Bildschirm die Nachricht leuchtet: Ihre neue Leber ist da. Plus Operationstermin. Blaulichtwagen steht auch schon vor der Tür.
Die Frage ist, was jeder von uns tun kann. Dass man aus Individuen schnöde Wahrscheinlichkeitsgrößen macht, ohne Fantasie, freien Willen und anarchisches Potenzial, ist natürlich nicht akzeptabel. Also müssen wir uns wehren – und zwar mit Fantasie, freiem Willen und anarchischem Potenzial. Wenn der Staat und die Wirtschaft in ihren Datensystemen für jeden Bürger ein berechenbares Ich erstehen lassen, müssen wir eine Art literarisches Ich dagegensetzen, das Dinge tut, mit denen nicht zu rechnen war.
Ein Beispiel könnte sein, dass ich bei meiner Drogeriekette unparfümierte Körperlotion bestelle, wenige Wochen später dann Magnesium, Kalzium und Zink. Ein schwangerer Mann von 57 Jahren? Das macht dem Algorithmus schon mal ein paar Millisekunden zu schaffen. Besser wäre, alle 57-jährigen Männer Deutschlands verabredeten sich zu einer solchen Bestellung, das hätte mindestens erst mal ein Programmierer-Meeting in der Drogeriezentrale zur Folge. Bisschen blöd ist, dass wir das bestellte Zeug nicht brauchen. Aber man kann es ja verschenken, irgendeine schwangere Frau kennt jeder, und das Schöne ist dann, dass die Drogisten so nichts von ihr erfahren.
Es wäre ein Einstieg. Interessanter wird es, wenn ich auf einen Schlag zwei Schraubensets für Volvo-Sattelschlepper-Auspuffhalter, einen Brunstdetektor für Hochleistungsrinder, 27 Fischräucherhaken, ein Handbuch der Darmreinigung, drei Tuben medizinischen Sofortkleber, ein hydrodynamisches Schnorchelset, ein Pultvordach aus transparentem Polycarbonat, drei künstliche Kniegelenke sowie 800 Edelstahl-Rouladenspieße ordere. Zwar benötige ich auch nichts davon. Aber was kauft man nicht alles für unnützes Zeug, da kommt es auf einen Brunstdetektor nicht an!
Vermutlich wird mich der amerikanische Geheimdienst unter Intensivbewachung stellen, worauf ich es mir zur Angewohnheit mache, jeden Tag fünf Minuten vor dem Hauptquartier der Bayernpartei auf und ab zu gehen, um danach immer aufs Neue einen Mitgliedsantrag für den Bund der Gebrauchtmänner in den Briefkasten zu werfen.
Alles mal so für den Anfang. Have fun, NSA!
Illustration: Dirk Schmidt