Das Beste aus meinem Leben

Leserpost (III): Im vergangenen Jahr schrieb ich einmal etwas über eine Szene am italienischen Strand. Ich saß dort und las Gustav Schwabs Sagen des klassischen Altertums – und zwar die Geschichte, in der Herakles bei Gibraltar zwei Säulen in die Erde rammt, das Ende der Welt markierend. Und gerade, als ich das las, tauchte ein Bekannter namens Bernd auf, wie immer leicht betrunken, unterhielt sich mit mir über den damals gerade aktuellen Untergang von New Orleans und behauptete dann im Rahmen längerer Ausführungen und im Dortmunder Tonfall: »Wenn es Gibraltar nich gäbe, würde das Mittelmeer auslaufen, es wäre leer.« Es habe nicht genug Zuflüsse; ohne Wasser aus dem Atlantik würde es einfach verdunsten.Das war ein Gedanke, der mich verwunderte, weil ich mir noch nie eine Welt ohne Mittelmeer vorgestellt hatte, schon gar nicht jetzt, in Zeiten steigender Meeresspiegel. Und war es ein Zufall, dass ich gerade am Mittelmeer lag, etwas über die Säulen von Gibraltar las, und dass Bernd ausgerechnet in diesem Moment …?Ich wollte ihn Näheres fragen, aber Bernd war plötzlich verschwunden und wir reisten am nächsten Tag ab. Ich dachte, ich würde ein Jahr warten müssen, bis zum nächsten Urlaub, um Bernd zu fragen, was es mit dem Verdunsten des Mittelmeeres auf sich habe.Aber das musste ich nicht. Denn ein paar Wochen später stand ich in München in einer Bar und trank einen Kaffee, als ein Mann auf mich zutrat, sich als Leser R. vorstellte und sagte, dieser Bernd da am Strand, der habe gar nicht Unrecht gehabt, was den Zustand des Mittelmeeres angehe. Und ob ich je von Hermann Sörgels Atlantropa-Projekt gehört hätte.Hatte ich nicht.Also Folgendes. Das Mittelmeer ist ein besonderes Meer, liegt in einer warmen Gegend, ist weniger bewegt als zum Beispiel der Atlantik und ähnelt einem dampfenden Becken. Was hier im Jahr verdunstet, wird weder durch Regen noch durch Nil, Po und Rhone ausgeglichen. Nur weil durch die Meerenge bei Gibraltar ständig Atlantikwasser hereinströmt, bleibt die Höhe des Meeresspiegels konstant.Das heißt aber eben: Würde man diese Meerenge schließen, wäre es bald aus mit dem Mittelmeer. Jedes Jahr sänke der Wasserstand um 165 Zentimeter. Es würden Zustände wieder eintreten, die es vor 50 000 Jahren, noch zu Lebzeiten des Neandertalers, einmal gab. Da war das Becken des Mittelmeeres nur ein großes Tal mit einer Seen-Kette an der tiefsten Stelle – denn eine Gebirgsschranke bei Gibraltar hielt den Atlantik zurück; sie zerbrach erst unter dem Druck eiszeitlichen Schmelzwassers. So beschrieb es jedenfalls der berühmte H. G. Wells in einem Buch.Und jener Hermann Sörgel, so Leser R., plante in den zwanziger Jahren, diesen Zustand wieder herzustellen. Er wollte bei Gibraltar einen gewaltigen Staudamm errichten mit einem Kraftwerk, das 49 000 Megawatt erzeugen sollte, 120 Prozent aller deutschen E-Werke noch im Jahr 1992. Sardinien wäre mit Korsika zusammen- gewachsen, Mallorca mit Menorca, Ibiza mit Formentera. Sizilien wäre keine Insel mehr gewesen. Es hätte eine Bahnverbindung von Mitteleuropa nach Kapstadt gegeben. Natürlich wären weder Genua noch Marseille noch Hafenstädte geblieben, und Venedig – ach, Venedig? Man wollte es irgendwie künstlich im Wasser halten, in einer Art See.Wenn man mal angefangen hat, sich mit der Sache zu beschäftigen, denkt man plötzlich Sachen wie: Warum ebnen wir eigentlich nicht die Alpen ein? Bald kann man wegen der Klimakatastrophe eh nicht mehr Ski fahren, dann stören sie nur noch, die Alpen, und man könnte mit dem Abraum hohe Deiche bauen, um Holland vor steigenden Meeresspiegeln zu retten.Aus Sörgels Plänen ist bekanntlich nichts geworden. Was nicht heißt, dass man sie damals nicht wirklich sehr ernsthaft und weltweit erörtert hätte. Man hatte noch Vertrauen in die Technik, Sörgel wollte sogar auch halb Afrika unter Wasser setzen, riesige Meere im Kongo und dem Tschad schaffen und die Sahara kultivieren. So berichtete mir R. So sah ich es vor ein paar Wochen zufällig sogar noch einmal im Fernsehen, in einem Film über Sörgel. Und so kann man es in einem sehr schönen Buch von Wolfgang Voigt nachlesen, Atlantropa heißt es.Ich nehme es jetzt mit, wenn ich Ostern in die Ferien fahre. Nach Süden. Ich möchte mal wieder nach dem Mittelmeer sehen. Und nach Bernd.