Neulich besuchte mich Bruno, der Freund, auf eine Flasche Wein. Wir saßen in der Küche. Paola kam herein, um sich zu verabschieden. Sie wollte ins Kino gehen.»Ich glaube, du hast was gegen mich«, sagte Bruno. »Als ich das letzte Mal hier war, bist du auch gegangen.«»Ihr wollt sicher ein bisschen über mich reden«, sagte Paola. »Da will ich nicht stören.« »Über dich?«, sagte ich. »Warum über dich?« »Wenn meine Freundin zu Besuch ist, reden wir auch über dich«, sagte sie. »Was redet ihr denn über ihn?«, rief Bruno lachend.»Ach…«, sagte Paola unbestimmt, gab Bruno einen Kuss auf die Wange, küsste mich auf die Lippen und ging.Ich erwähne die Sache, weil mir bei der Gelegenheit einfiel, dass es in meinem Leben eine Person gibt, die ich wenig kenne, die ihrerseits über mich aber alles weiß. Ich glaube das jedenfalls. Vermute es. Habe Anhaltspunkte. Diese Person ist Paolas beste Freundin Carla, die vermutlich in Bezug auf alle meine Eigenschaften und vor allem sämtliche meiner Schwächen besser auf dem Laufenden ist als ich selbst. Carla ist Paolas Klagemauer, alle Eheprobleme betreffend.Damit ist nicht leicht umzugehen. Ich löse das durch Verdrängung. Wenn Carla anruft, reiche ich den Hörer sofort an Paola weiter, mehr noch: Wenn ich vermute, Carla könnte am Apparat sein, gebe ich Paola das klingelnde Gerät. Und besucht Carla meine Frau am Nachmittag, komme ich gern später aus dem Büro.Doch ich trage die Sache mit Fassung, anders als mein Vater, für den die beste Freundin meiner Mutter zeit seines Lebens »Frau Schneidemeister« war und nie Duzperson wurde. In Bezug auf sie gibt es legendäre Wutanfälle von ihm, in deren Verlauf ich ihn noch im ersten Stock unseres Hauses brüllen hörte: »Hat das wieder Frau Schneidemeister gesagt?« Oder: »Dahinter steckt doch Frau Schneidemeister!« Oder: »Schneidemeister – wenn ich den Namen schon höre!« Die Indizien dafür, dass Carla mehr über mich weiß, als mir lieb ist, liefert mir Bosch, mein sehr alter Kühlschrank und Freund. Bosch ist im Raum, wenn Paola telefoniert. Bosch hält die Ohren offen. Er berichtet diskret, aber aufrichtig. Und er erklärt mir das gelegentlich seltsame Verhalten meiner Frau, das…Carla ist nämlich nicht verheiratet. Sie hat eine Affäre nach der anderen. In jede stürzt sie sich mit Leidenschaft und Optimismus. Paola berichtet sie in unserer Küche oder am Telefon davon. Von den langen intensiven Blicken des einen. Vom nie erlahmenden Interesse an den Verwinkelungen ihres Seelenlebens eines anderen. Vom Kamasutrasex mit einem dritten. Von der Selbstlosigkeit eines vierten, der sie in Honigmilch bade und nachts um drei zur Apotheke fahre, wenn es sie nach einer bestimmten Sorte Einschlaftee gelüste.Das alles kommt auch bei mir an, ohne Herkunftsangabe, ohne Verfallsdatum, in Sätzen wie: Du hast mich heute nicht einmal richtig angeschaut. Du interessierst dich gar nicht mehr für mich. Weißt du eigentlich noch, was Kamasutra bedeutet? Es soll Männer geben, die nachts um drei…Bosch klärt mich dann auf. Ihm verdankte ich eines Tages auch die Nachricht von Carlas Verliebtheit in einen Mann aus Tahiti, kommunikationsgierig, selbstlos, spontan, emotional – ein Kerl, der Carla in den Wahnsinn trieb und leider auch mich, der ich mich eine Zeit lang mit einem Mannesideal konfrontiert sah, dem ich nicht gewachsen war, drei lange Monate war ich ihm nicht gewachsen, nahezu bis an den Rand eines Bandscheibenvorfalls war ich ihm nicht gewachsen, denn Paola verlor sich in Carlas Berichten so wie Carla selbst.Bis mich Bosch eines Abends von einem ebenso phänomenalen wie finalen Streit zwischen Carla und dem Tahiti-Mann in Kenntnis setzte. Ich feierte das mit Paola bei Kerzenlicht und einer Flasche Champagner – wobei Paola gar nicht wusste, was wir feierten.Mit Bruno habe ich übrigens am erwähnten Abend die Aussichten des FC Bayern in der Bundesliga-Rückrunde besprochen. So etwas kann sehr entspannend sein.