Im Sprachwertstoffhof wurde (von Herrn H. aus Weil im Schönbuch) das Wort »Lustmühle« eingeliefert, was mir gut gefällt, einfach wegen der Wortkombination, die uns auffordert, das Lustvolle an der Mühle, aber auch das Mühlenhafte an der Lust zu entdecken. Wobei H. dieses Wort in der Schweiz fand. Er war dort im Frühjahr unterwegs und fuhr oft mit der Bahn die Strecke St. Gallen–Appenzell. Dort gibt es viele kleine, wenig frequentierte Stationen, an denen die roten Appenzeller Bahnen nur halten, wenn der Fahrgast einen Knopf gedrückt hat, über dem steht: »Halt auf Verlangen«. Und dort, in Appenzell, gibt es eben einen Bahnhof namens Lustmühle, der von einer zurückhaltend-mechanischen Ansagestimme folgendermaßen angekündigt wird: »Nächster Halt Lustmühle. Halt auf Verlangen.«
Solche Hinweise, egal ob mündlich oder schriftlich, sind im Moment mein Schönstes. In den neueren Straßenbahnen der Leipziger Verkehrsbetriebe, schreibt mir zum Beispiel Frau R., gibt es kleine gelbe Kästen mit einem Knopf, über dem »Fahrgastwunsch« geschrieben steht. Man denkt da sofort über das offensichtlich zutiefst poetische Wesen der Leipziger Verkehrsbetriebe nach, die Menschen nicht nur Fahrkarten verkaufen und sie befördern wollen, sondern nebenbei auch kleine Wunschmaschinen installiert haben, die es ermöglichen, während der Fahrt aus einem unbestimmten Sehnen heraus einen konkreten Wunsch (oder jedenfalls einen Fahrgastwunsch) in sich zu formulieren, dann die Augen zu schließen und zu drücken…
Über den Türen der neueren Leipziger Straßenbahnen steht dann aber: »Vor dem Aussteigen bitte Fahrgastwunsch betätigen«. Betätigen? Muss es nicht bestätigen heißen? Ja, so wird es sein. Betätigen ist sinnlos, wie soll man einen Wunsch betätigen? Bestätigen aber bedeutet, während der Fahrt die am allertiefsten verborgenen Fahrgastwünsche in sich selbst zu erkennen und dann vor dem Aus-steigen den Fahrgastwunschknopf zu drücken, woraufhin auf draht-los-wunderbare Weise die Leipziger Verkehrsbetriebe von diesem Wunsch erfahren und ihn zu erfüllen trachten. So und nicht anders ist der irgendwie enttäuschte Gesichtsausdruck zu erklären, den der Besucher Leipzigs in den Gesichtern vieler Menschen dort stets zu erkennen meint: ein unerfülltes Harren, ja, ein geradezu fahrgastwunschloses Unglück vieler Ausgestiegener. Denn in der Leipziger Verkehrsbetriebszentrale sitzt zweifellos ein ratloser Mensch vor einer langen Liste von Fahrgastwünschen, ja, von allerdringendsten, jedoch unerfüllten, zu erfüllen auch gar nicht möglichen Fahrgastverlangen…
Nach langem Grübeln bin ich zu dem Schluss gekommen, dass wir alle tief in uns einen Wunsch nach solchen Schildern hegen, nach Hinweisen, Anweisungen, ja, nach Hinweisungen… Denn unser Leben ist von oberflächlicher Sinnhaftigkeit angefüllt, jedoch nicht erfüllt. Und wir brauchen Schilder, die uns Rätsel aufgeben, die in unser Dasein ragen wie Brücken aus dem Nichts, ja, die uns frei machen von Rationalität und Sinn und bereit machen für die Berührung mit dem Nirwana, dem großen Blabla…
Ich will Beispiele nennen. Frau P. schreibt mir, im Müllraum ihres Hauses hänge ein Schild, auf dem steht: »Bitte schließen Sie die Biotonne nicht nur aus hygienischen Gründen.« Hier haben wir ja geradezu unsere Aufgabe im Leben formuliert: Es kommt nicht nur darauf an, etwas zu tun, sondern auch darauf, aus welchen Gründen man es tut. Frau P. aber schließt nun jeden Tag die Biotonne, ohne dass ihr ein anderer Grund zu deren Schließung eingefallen wäre. Sie grübelt, sie zweifelt, sie verzweifelt – nichts. Sie schließt weiterhin nur aus hygienischen Gründen, doch innerlich aufgewühlt, voller Fragen, suchend. Dies rührt an Großes, zweifellos.
Wer solche Schilder hinter sich hat, ist frei und bereit für Texte wie jenen, den Leserin L. auf dem Hinterteil eines großen Lkws las: »Achtung! Bei Freifallöffnung Domdeckel öffnen sonst Vakuumgefahr!«Dahinter wartet nur noch, was Frau G. aus Hengersberg berichtet: der Handzettel einer ungarischen »Kleinmaschinenbrigade«, die in Niederbayern Trödelsammlungen organisiert. Sie fordert auf, Folgendes vor die Türen zu legen: »Wassenhahne, (Die Reifen Paar), Spotgerate, Wrkzeuge Purmaschhine, Altkaput moped, Kettensagen-Motorziege«. Der Aufruf endet mit den Worten:
»Bitte keinen Sperrmüll und Abfal
Kaput ejzen Alte eyzen Kuffen.«
Kaput ejzen Alte eyzen Kuffen!
Ach, das Leben. Ist es nicht eine Lustmühle?
Illustration: Dirk Schmidt