Die Gereiztheit wächst

Gibt es einen Ort, an den man vor Wladimir Putin, Boris Johnson und dem Februar fliehen kann? Ja, gibt es. Und es ist der schönste Ort von allen: die eigene Fantasie.

Illustration: Dirk Schmidt

In der Welt wurde der Medizinhistoriker Jörg Vögele gefragt: »Wir sind im dritten Pandemiejahr, sind wir dem Ende nah?« Vögele antwortete mit leiser Ironie: »In meinem Alter bin ich natürlich dem Ende immer nah …« Das hat mich erschreckt. Ich habe sofort nachgesehen, wie alt Vögele ist. Ergebnis: knapp ein Jahr jünger als ich. Bin ich also dem Ende noch näher als Vögele?

Sagen wir so: Es gibt zurzeit Tage, an denen ich mich älter fühle, als ich bin. Noch vor zwei Jahren brach ich am Abend oft tatendurstig zu einer Lesung auf. Heute schleppe ich mich vom Abendessen in der Küche bis ins Wohnzimmer, wo ich die Tagesschau sehe, auf den Nichtsnutz Putin schimpfe, irgendeinen Vulkanausbruch über mich ergehen lasse und zum 712. Mal die Inzidenzen studiere. (Hat außer mir jemand mitbekommen, dass Susanne Daubner kürzlich mit ihrer herrlich samtigen Altstimme sagte, ein interner Untersuchungs­bericht habe dem britischen Premier Johnson »Verführungsversagen« bescheinigt? Ja, das sind schon die Höhepunkte solcher Abende. Verführungsversagen.)