Echt jetzt?

Diesel, Silikon und Handtaschen – vor lauter Fälschungen findet Axel Hacke die Wirklichkeit nicht mehr. Falls es sie überhaupt noch gibt.

In der Zeitung stand, das Europäische Amt für Betrugsbekämpfung (Olaf) habe mitgeteilt … Moment mal, wie heißt dieses Amt? Olaf? Tatsächlich, es geht um das Office Européen de Lutte Anti-Fraude, kurz OLAF oder eben Olaf – ich bin begeistert! In einer Welt zu leben, in der Behörden Olaf heißen, davon hätte ich noch gestern nicht zu träumen gewagt: Dabei ist es längst der Fall. Und man fragt, wieso sich das Kreisverwaltungsreferat immer noch so nennt, weshalb trägt es nicht einen freundlichen Namen wie, sagen wir, Detlef? Könnten wir nicht die ganze EU in Helmut umbenennen? Und warum heißt die Nato nicht Manuela?

Nun, was hatte Olaf uns zu sagen?

Es ging, kurz gesagt, um die Beschlagnahme einer Million gefälschter Halbleiter, Elektroteile also, die Verwendung finden in … ach, fragen Sie mich was Leichteres. Jedenfalls ist es gefährlich, wenn Halbleiter gefälscht sind, Flugzeuge könnten abstürzen, Computer durchbrennen. Natürlich kam das Zeug aus China, das Land ist die Heimat alles Gefälschten, von der Uhr übers Hemd zur Handtasche. Wahrscheinlich ist das ganze Land eine Fälschung und heißt in Wahrheit Fräulein Meier.

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Jedoch muss man sagen: Wir beobachten mittlerweile in aller Welt so etwas wie das Verschwinden des Ungefälschten. Von Diesel-Autos ist mittlerweile bekannt, was an ihnen nicht richtig ist. Aber neulich erfuhren wir bei Spiegel TV, dass bereits Oldtimer im großen Stil gefälscht werden, zusammengeschustert aus gestohlenen Einzelteilen. Auch wurde berichtet, dass Fernseher, Kühlschränke und Waschmaschinen erheblich mehr Energie verbrauchen, als die Hersteller uns mitteilen. Selbst an vielen Mitmenschen ist kaum noch etwas original, überall wird gespritzt und abgesaugt, geschnitten und gestrafft. In Deutschland stieg 2016 die Zahl der kosmetischen Eingriffe ins Naturmaterial um zehn Prozent, wie die Vereinigung der Deutschen Ästhetisch-Plastischen Chirurgen (VDÄPC, warum nicht: Jacqueline?) verlauten ließ. Oft wird das Ganze noch sorgsam mit einer Tattoo-Tapete verkleidet.

Diese Kolumne fühlt sich traditionell der großen Frage Wo soll das alles hinführen? verpflichtet. Hier müssen wir einmal fragen: Wohin hat es schon geführt? Wenn wir im Grunde nichts mehr in der anfassbaren Welt für wahr halten können, wenn jedes Auto und jeder Staubsauger Lügenprodukte sind, jede Brust und jeder Penis von Fachpersonal aufgemotzte Kunst-Stücke, wenn alles um uns herum ein Fake ist – muss man sich wundern, wenn wir einer Entgrenzung von Realität und Fiktion beiwohnen?

Unser ganzes Leben hat etwas Unwirkliches bekommen. Menschen, die in Städten leben, kann man dabei beobachten, wie sie, statt am greifbaren, hörbaren, riechbaren, sichtbaren Dasein um sich herum teilzunehmen, in kleine Geräte starren oder wie sie mit Menschen sprechen, die nicht anwesend sind, oder aus Stöpseln hören, was sonst niemand hier und jetzt hört. Sie sind hier und doch woanders, und während sie woanders sind, betreten sie hier die Straße und, tja, so werden sie von einem Auto auf das Schlimmste daran erinnert, dass wahres Leben und der wirkliche Tod immer noch hier stattfinden.

Müssen wir uns angesichts dessen wundern, dass eines der größten Länder der Welt von einem Mann regiert wird, der in Wahrheit nicht mehr hier, sondern woanders weilt? Der sein Leben mit Fernsehen und elektronischen Geräten verbringt? Wir sehen ihm mittlerweile zu, wie man eine Fernsehserie verfolgt. Warten auf den nächsten twist und einen neuen turn. Aber in Wahrheit hoffen wir nur auf OLAF oder Olaf oder meinetwegen Olav, auf irgendeine freundliche Behörde jedenfalls, die den Mann endlich als gefälscht beschlagnahmt.

Illustration: Dirk Schmidt