Aus gegebenem Anlass mache ich mir Gedanken über folgende Frage: Gesetzt den Fall, ich habe ein Buch vor zwanzig Jahren gelesen, erinnere mich aber nicht an dessen Inhalt, ja, ich weiß kaum noch, ob ich es überhaupt gelesen habe – genießt dieses Buch dann Gelesenenstatus oder muss es als ungelesen gelten?
Das Problem tauchte auf, als ich im Laden eine Neuausgabe von Vicki Baums 1929 erschienenem Roman Menschen im Hotel entdeckte. Ich hatte das dunkle Empfinden, ihn gelesen zu haben, konnte mich aber nicht erinnern und kaufte es. Als ich es mir abends vornahm, schien es mir, als kennte ich das Buch doch nicht. Erst auf Seite 96, als der Baron Gaigern beginnt, durch waghalsige Fassadenkletterei ins Zimmer der Balletttänzerin Grusinskaja einzubrechen, um deren Perlen zu stehlen, wurde mir schlagartig klar: Das kennst du! Aber ich setzte die Lektüre fort, infiziert vom Vergnügen, das sie bereitet. Ich hatte das Buch also gelesen, war aber nicht immun, sondern las es ein zweites Mal, begleitet von vagem Erkennen.