Zuhause Einzimmerapartment bei Heidelberg
Ausbildung/Beruf Einzelhandelskaufmann/Abteilungsleiter
Liebe keine Freundin
Einkommen das behält Alexander lieber für sich
Lieblingsessen Schnitzel, Pommes, Salat
Lieblingsstar immer noch Oliver Kahn, dazu: Hans-Jörg Butt
Größter Wunsch einmal ein Känguru sehen
Nächster Urlaub er spart auf Australien
Marco ist nicht aufgetaucht. Zu weiter Weg, siebzig Kilometer sind es von Heilbronn zum Wohnort seines Bruders, einem kleinen Vorort von Heidelberg. Zu viel zu tun, morgens um drei musste er aufstehen, zur Probe arbeiten auf dem Bau bis mittags, dann in die Berufsschule. Nein, an einem anderen Tag gehe es auch nicht besser – nächste Woche hat er eine mündliche Prüfung, das Wochenende hält er sich frei für die Freundin. Marco geht jetzt auch nicht mehr ans Handy. Das sieht ihm ähnlich, sagt Alexander. Wahrscheinlich hat Marco keine Lust mehr, sich mit seinem Zwillingsbruder Alexander vergleichen zu lassen.
Marco muss sich gar nicht in Alexanders Nähe befinden, um doch ständig präsent zu sein. Noch als sie 13 waren, hat allein die Mutter die eineiigen Zwillinge unterscheiden können. Lehrer und Betreuer des Kinderheims, in dem sie aufwuchsen, konnten es nicht. Inzwischen ist Alexander mit 1,91 Metern ein Stück größer als Marco, erzählt er. Er sei etwas schlanker, sein Gesicht schmäler. Marco, Fan von Borussia Dortmund, hat vor zwei Jahren mit dem Vereinsfußball aufgehört, Alexander, Fan des FC Bayern, spielt immer noch dreimal die Woche. Alexander hat seine Ausbildung abgeschlossen, Marco nicht. Eine vielleicht müßige Frage: Lässt sich Alexander eigentlich vorstellen ohne Marco?
Der Zuverlässigere von beiden ist jedenfalls Alexander. Seine Verlässlichkeit sieht man auf den ersten Blick: helles, perfekt gebügeltes Hemd, dunkle Anzughose, ein freundlicher, bestimmter Blick und ein fester Händedruck. »Wenn ich einmal etwas zusage, dann bleibe ich auch dabei«, erzählt er in einem leichten kurpfälzischen Dialekt. Er ist kaum wiederzuerkennen. Keine Spur mehr von dem verschüchterten, nervösen Jungen. Ja, der Leiter des Kinderheims, in dem Marco und Alexander aufgewachsen sind, hatte wohl recht, als er am Telefon kurz erzählte, wie es den beiden Brüdern in den vergangenen sieben Jahren ergangen ist: »Beim Alexander kann der Steuerzahler sehen, dass sein Geld gut angelegt war, um den braucht man sich keine Sorgen mehr zu machen, der Marco hat noch etwas mit sich zu kämpfen.« Der Vergleich, schon wieder.
Kurzer Versuch, das Leben eines Zwillings ohne den anderen zu beschreiben. Alexander also: Er lebt in dem Einzimmerapartment, in das er einzog, als er mit 18 das Kinderheim verließ. Im ersten Jahr schaute einmal die Woche noch ein Betreuer vorbei. Viele Sorgen wird er sich nicht gemacht haben müssen: Alexanders Zimmer mit Kochecke ist aufgeräumt und sauber. Der Schreibtisch leer, das Bett gemacht. So wohnt ein junger Mann, der sein Leben im Griff hat.
Sein Hauptschulabschluss fiel sehr gut aus, nach seiner Lehre als Einzelhandelskaufmann in einem Kaufhaus übernahm man ihn in der Textilabteilung. Er wurde versetzt, weil man ihn an anderer Stelle dringender brauchte: Süßwaren, obwohl er Süßigkeiten gar nicht mag. Dennoch wurde Alexander bald Abteilungsleiter.
Eine Woche arbeitet er bis sechs, die nächste bis acht Uhr abends, erledigt danach seine Wäsche, bügelt, kocht, putzt, bereitet sich für den Job am nächsten Tag vor: Er liest in Branchenblättern, was die Leute für Süßigkeiten mögen und warum. Jeden Sonntag steht er im Tor eines B-Klasse-Vereins. Manchmal schaut der Vater zu, der sich früher kaum um die Zwillinge gekümmert hat, ja, auch das schwierige Verhältnis zum Vater hat der Sohn inzwischen in den Griff bekommen. Er versteht, dass die Eltern die anstrengenden Zwillinge mit sieben Jahren ins Kinderheim gaben. Bei Marco und Alexander hatte man ADHS festgestellt, krankhafte Hyperaktivität. Die Eltern brauchten Zeit für die beiden jüngeren Geschwister der Zwillinge. Der Vater arbeitete als Hausmeister, die Mutter als Putzfrau. Heute sind sie getrennt. Alexanders jüngere Geschwister, 16 und 18 Jahre alt, leben beim Vater. Der Vater hat inzwischen drei Jobs. Die Mutter lebt bei ihrem Freund. Mit dem Vater versteht sich Alexander heute sogar besser als mit der Mutter. Er hat dem Vater nicht gänzlich verziehen, aber er hat ihn verstehen gelernt. »Wir mögen und helfen uns.«
Nach dem Fußball geht Alexander immer zum Griechen, wo er immer das Gleiche isst: Schnitzel, Pommes, Salat. Er trinkt selten und wenig Alkohol. Er mag sein geregeltes Leben, dabei ist er neugierig geblieben: Heute bestellt er beim Griechen zum ersten Mal in seinem Leben einen ganzen Fisch und trinkt zum ersten Mal Retsina. Schmeckt ihm.
Weil ihn neue Herausforderungen reizen, liebäugelt Alexander mit dem Wechsel in den Polizeidienst, auch wegen des vielen Sports während der Ausbildung zum Polizisten. Seit seiner Kindheit träumt er von einem Urlaub in Australien. Er wird es schaffen, so entschlossen, wie er davon erzählt. Mut hat er auch: »Das mit dem Heim weiß jeder in meiner Arbeit, dafür geniere ich mich nicht. Peinlich ist mir die Sonderschule, davon habe ich bisher nur meinen Freunden erzählt.« Er verzichtet dennoch darauf, dieses Detail aus seiner Jugend einfach zu verschweigen. »Schreiben Sie’s ruhig auf. Vielleicht könnte mein Beispiel anderen Jugendlichen Mut machen.«
Augenblicklich hat Alexander keine Freundin. Es gebe da jemanden, aber sie sei zu eifersüchtig und vertrage es nicht, wenn er eine SMS mal nicht sofort beantwortet. Das gefällt ihm nicht. Er wartet lieber noch auf die Richtige.
Alexander hat seine Prinzipien. Gerechtigkeit ist das wichtigste. Im Job setzt er sich für die Praktikanten ein, so wie früher in der Familie und in der Schule für seinen Zwillingsbruder. Mit Marco teilt er die Leidensgeschichte seiner Kindheit, deswegen ist die Verbindung mit ihm heute immer noch stark. Früher stritten sie viel miteinander. Im Kinderheim verschrieb man ihnen ein starkes Beruhigungsmittel, Ritalin. Ihr Verhalten besserte sich erst, als die Betreuer sie in unterschiedliche Wohngruppen steckten und die Brüder sich abwechselten mit den Wochenendbesuchen zu Hause. Marco machte weiterhin »viel Quatsch«, das sind Alexanders Worte. Mit 14 flog Marco also wegen »Quatsch« aus dem Kinderheim, ging zurück in die Familie, zu seinen beiden anderen Geschwistern. Alexander blieb lieber im Heim. Die Trennung tat beiden gut. Kein Arzt hat jemals wieder ADHS festgestellt – »Wir zappeln nicht herum, und wir haben beide auch keinen einzigen Tick.« Ritalin haben sie schon seit ihrem zehnten Lebensjahr abgesetzt: »Das Zeugs hat uns ballaballa gemacht.«
Das Verhältnis der Zwillinge untereinander ist heute gut. »Wir verstehen uns. Wir sehen uns nicht mehr so oft, aber wir telefonieren sicher einmal die Woche, na gut, vielleicht auch deswegen, weil er mir Geld schuldet.« Ohne seinen unvernünftigeren Bruder wäre Alexander kaum so vernünftig geworden. Alexander glaubt, dass ihm sein Idol Oliver Kahn und dessen Buch Ich. Erfolg kommt von innen geholfen haben, etwas aus sich zu machen. Bei einem Jugend-Fußballturnier in Italien trat ihm ein gegnerischer Stürmer mit Absicht ins Gesicht. Alexander blutete schlimm, sein Kieferknochen lag frei, aber er rief sofort: »Schiri, ich spiele weiter.« Dann stand er auf und fiel in Ohnmacht.
Fotos: Konrad R. Müller