In einer kleinen Stadt an einem ruhigen Fluss, nur ein paar Katzenwürfe vom nächsten tiefen Wald entfernt, lebt ein Mann, der ist ein Steinpilz-Oligarch. Er hat sich mit der Hälfte seines Herzens den Steinpilzen verschrieben, die andere Hälfte gehört seiner Frau. Schon im August wird er unruhig, weil da die Sommersteinpilze wachsen, dann springt er frühmorgens in seine Waldhosen und geht in die Pilze. Noch vor dem Mittagessen ist er wieder zu Hause und präsentiert seiner Holden stolz die Ausbeute – kleine, äußerst wohlschmeckende Exemplare mit weichen, braunen Kappen. Die Frau des Steinpilz-Oligarchen seufzt entzückt, während er den Herd anwirft, für ein paar geröstete Scheiben Schwarzbrot mit gebratenen Waldbodenfrüchten voller Gartenkräuter reicht es.
Die große Zeit des Oligarchen kommt im Oktober. In den ersten Tagen geht er die künftige Ernte sichten, auf Knien robbt er durchs Unterholz und zählt die kleinen Kappen der Pilznester, er ist an ungewöhnlichen Orten unterwegs, die sonst niemand kennt, in offiziell umzäunten Baumschulen zum Beispiel. Er achtet peinlich genau darauf, dass ihm niemand folgt, denn es sollen seine Jagdgründe sein und bleiben. Wieder zu Hause angekommen, stellt er die Waldhosen, die hoffentlich seit dem Sommer nicht gewaschen wurden – Aberglaube ist alles im Wald –, in eine Ecke und legt Excel-Tabellen an. Wachstumskurven, Hutdurchmesser, Wetterbericht. Seine Frau sagt lächelnd, aber leicht augenrollend, das sei »der Pilzradar«. Ich glaube ja, dass die Steinpilzfixierung eine niedliche, männliche Art ist, Liebe zu zeigen.
Nach ein paar Tagen findet der Steinpilz-Oligarch auf seinen vorher vermessenen Flächen im Wald unglaubliche Monsterpilze, mit fast menschenkopfgroßen Hüten. Er ist so glücklich darüber, dass er Fotos davon an andere Leute schickt. Er gerät in einen regelrechten Steinpilzrausch, einen Mix aus Wildniserfahrung und der Liebe zu seiner Frau. Die Waldhosen sehen zu diesem Zeitpunkt schon komplett indiskutabel aus, aber das kriegt er nicht mehr mit, und er kriegt auch nicht mit, dass die Sonne längst untergegangen ist. Verdammt, denkt er irgendwann, als er im Dickicht keine Pilze mehr erkennen kann, hätte ich doch nur eine Laterne dabei.
Im Märchen würde jetzt selbstverständlich die Steinpilzfee erscheinen. Ein rundliches Fabelwesen aus der nahegelegenen Häuser- und Kneipenansammlung Darmstadts, sie würde einen braunen Hut tragen zu einem weichen Bauch, kurzen Beinen und bernsteinfarbenen Flügeln, und sie hätte ein Laternchen dabei. Ein Laternchen ist ein Maßkrug voll süßgespritztem Apfelwein, in dem ein Sektglas mit Kirschlikör versenkt wurde. Ein Getränk, aus sich selbst heraus leuchtend, denn so was kann nur in einem dunklen Wald erfunden worden sein. Oder vielleicht in Darmstadt.
Aber weil wir hier in der Wirklichkeit sind und nicht im Märchen, schafft es der Steinpilz-Oligarch mithilfe des öffentlichen Nahverkehrs zurück in die Zivilisation und sitzt am Abend mit seiner Frau und einem befreundeten Paar um den Esstisch, in der Mitte sind die Pilze des Tages aufgetürmt, und es wird versucht, ein Laternchen herzustellen und zu trinken. Es gelingt zwar, aber es schmeckt wie Maurerpisse mit Kinder-Em-eukal-Bonbons, und das Sektglas schlägt allen mal mehr, mal weniger gegen die Schneidezähne. Ganz entgegen seiner sonstigen Gewohnheiten gibt der Steinpilz-Oligarch am Ende auf und sagt, es sei jetzt Zeit, schlafen zu gehen, schiebt den Freunden aber noch schnell eine Packung vakuumierter, getrockneter Sommersteinpilze zu, denn das Licht ist aus, wir geh’n nach Haus, rabimmel, rabammel, rabumm.
Märchentrank aus dem dunklen Wald
Ein Getränk, das aus sich selbst heraus leuchtet, zwei Drinks in einem enthält und am Ende auch die Stärksten zum Aufgeben zwingt: Unsere Autorin stellt das »Laternchen« vor.

Foto: Erli Grünzweil