Seit etwa einem halben Jahr gibt es in meiner Nachbarschaft einen Laden, vor dem oft morgens, mittags und abends eine Menschenschlange steht. Weil ich ein ungeduldiger Mensch bin und überall, wo sich auffallend viele Menschen tummeln, mit einem mäßig interessanten und letztlich vorübergehenden Trend rechne, bin ich wochenlang daran vorbeigelaufen, ohne zu wissen, was dort eigentlich verkauft wird, denn dass irgendwas verkauft wird, davon bin ich aufgrund fünfzigjähriger Lebenserfahrung einfach mal ausgegangen. Erst nach mehreren Wochen habe ich begriffen, dass es sich um eine neue Kaffeekette namens LAP (Life among People) handelt, mit inzwischen mehr als zwanzig Filialen in Berlin, Hamburg und München. Eigentlich ist mein Desinteresse an neuen Kaffeeketten gigantisch, aber es ließ sich nicht verhindern, dass ich davon erfuhr. Zu viele Menschen sprachen darüber, zu viele Zeitungen berichteten, das Internet war voll davon.
Mittlerweile bin ich auf dem aktuellen Stand: LAP ist ein internationales Investorenprojekt, die Gründer entstammen der Berliner Start-up-Szene, das Konzept ist so simpel wie bestechend: kleine Filialen in meist angesagten Vierteln, kaum Service, wenig Sitzmöglichkeiten, junge Kundschaft, fast alle bestellen ihren Kaffee to go. Klingt nicht so gemütlich, dafür sind die Pappbecher schön blau und billig ist es auch. Einen Espresso gibt es für 1,50 Euro, einen Cappuccino für 2,50 Euro, was ungeheuerlich klingt, wenn man bedenkt, dass ich diese Kolumne in einem Café in Zürich schreibe, vor mir ein Cappuccino für 7,50 Franken. Freilich kommt der Kaffee bei LAP nicht aus der Siebträgermaschine, sondern einem Vollautomaten, offenbar setzt man auf einen hohen Durchlauf von Kunden und Kaffee, immerhin wird die Milch per Hand beigemischt.
Inzwischen hat der Kulturkampf die Kaffeekette erreicht. In Berlin wurden vier Filialen mit roter Farbe beschmiert, in Hamburg rief die linksextreme Szene zu gewaltsamem Widerstand auf, im Stern lästerte Micky Beisenherz über die »seelenlosen Ketten«, im Netz mehren sich Boykottaufrufe: »Bitte weg damit und unterstützt echten Kaffee mit echten Menschen in echten Cafés.« Der milieuübergreifende Vorwurf: Die LAP-Filialen verdrängten mit Spottpreisen kleine inhabergeführte Cafés. Auf den ersten Blick mache das Unternehmen Kaffee für Normal- und Geringverdiener erschwinglich, tatsächlich handle es sich aber um eine brutalkapitalistische Verdrängungsstrategie internationaler Geldgeber mit dem Ziel der Gewinnmaximierung.
Ich gestehe, dass mich diese Argumente irritieren. Ich dachte, wir leben in einem Land, in dem jeder Mensch eine Geschäftsidee haben und verwirklichen kann, solange sie nicht mit der Verfassung kollidiert. Was die Kritiker nicht wahrhaben wollen: Ohne Veränderung, auch ohne Verdrängung wäre der Wohlstand, an dem wir uns heute erfreuen, niemals möglich gewesen, übrigens auch nicht ohne automatisierte Massenproduktion. Ziemlich sicher wohnen viele, die sich über LAP beschweren, in Altbauwohnungen, die sich ihre früheren Bewohner nicht mehr leisten können. Und wer keine milliardenschweren Investoren unterstützen möchte, möge bitte umgehend auf Google, Instagram, Spotify, Netflix und die nächste Airbnb-Wohnung verzichten. Fast alles, was wir als selbstverständlich erachten, hat irgendwann anderes ersetzt, und ausgerechnet jetzt, wo wir es uns gemütlich gemacht haben, soll damit Schluss sein? Wie selbstgerecht! Erstens: Niemand wird gezwungen, seinen Kaffee bei LAP zu trinken. Zweitens: Offenbar muss man sich nicht nur Moral, sondern auch Doppelmoral leisten können. Drittens: Am Ende bekommt die Menschheit, was sie verdient, in diesem Fall: mittelmäßigen Kaffee.
