Der Mann, der meine Stadt schuf

In der Familie unserer Textchefin gab es einen Standardsatz: »Uiii, der Vogel, der hat die Olympiade nach München gebracht.« Jetzt konnte sie ihm endlich persönlich dafür danken, dass er sie so stolz auf ihre Heimat gemacht hat.

Denke ich an Hans-Jochen Vogel, denke ich immer auch an meinen Großvater. Denke ich aber länger als ein paar Augenblicke an meinen Großvater, kämpfe ich mit meinen Tränen. Ich vermisse ihn sehr.

Hans-Jochen Vogel war ein Held meiner Kindheit. Leider keiner, mit dem ich hätte angeben können vor meinen Freunden. Mit meinen anderen Helden hatte ich auch wenig Glück. Für Mireille Mathieu zum Beispiel verspotteten mich meine Brüder. Für sie zählten nur britische Bands, die meine Eltern Beatgruppen nannten – und manchmal unser Großvater.

Mein Großvater hielt große Stücke auf Hans-Jochen Vogel, zwölf Jahre, bis 1972, Münchner Oberbürgermeister. 1966 wurde München zum Austragungsort der Olympiade 1972 gewählt. Seit diesem Moment sagte mein Großvater, wann immer er ihn im Fernsehen sah: »Uiii, der Vogel, der hat die Olympiade nach München gebracht.« Nur diesen Satz. Immer. Die Olympiade musste was Großes sein und somit der Vogel, das begriff ich als Kind. Bis heute mag ich beide. Ich schaue mir alle vier Jahre halbe Nächte Sportwettkämpfe an und lasse nichts auf Hans-Jochen Vogel kommen. Das soll mal einer probieren, der würde mich kennenlernen!

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1966 wurde Hans-Jochen Vogel mit unvorstellbaren 78 Prozent als OB wiedergewählt, wohl auch von meinem Großvater. Es war vermutlich das einzige Mal, dass er der SPD seine Stimme gab, so stolz war er auf seine Stadt. Er war CSU-Wähler. Das lässt sich mit seinem Leben erklären, einem, das es heute nicht mehr gibt: Geboren als 16. und letztes Kind sehr armer, sehr gläubiger Bauern aus Niederbayern, acht Kinder starben, bevor sie ein Jahr alt waren. Er ging nach München und führte mit meiner Großmutter einen Kramerladen in der Baaderstraße. Er war der Vater meiner Mutter. Er hat viel gebetet.

Als Kinder durften wir zu Hause nicht fernsehen, aus Prinzip. Darum fuhren wir oft am Wochenende mit dem Bus zu meinem Großvater und waren bereit, uns wahllos alles anzuschauen. Der Satz: »Susi, dreh an Fernseher auf«, klang oft wie eine Erlösung. Allerdings sah er am liebsten Operetten- und Politiksendungen in seinem Schwarz-Weiß-Apparat. Daher kannte ich Hans-Jochen Vogel ganz gut. Mein Großvater ist bis heute der Einzige, der mich Susi nennen durfte.

Als ich vor ein paar Wochen meinem jüngeren Bruder erzähle, dass ich Hans-Jochen Vogel treffen werde, sagt er bloß: »Uiii, der Vogel, der hat die Olympiade nach München gebracht.«

Vierzig Jahre nach der Olympiade sitze ich mit Hans-Jochen Vogel im Café des Augustinums, ein Münchner Altenheim, in das er vor sechs Jahren mit seiner Frau gezogen ist. Eine Minute nach elf kommt er, aufrecht gehend, den Flur herunter, ein Mann von 86 Jahren. Er trägt Sakko, Krawatte und Pullunder.

Er bestellt ein Glas Tee und erzählt, wie er das gemacht hat, der Vogel, die Olympiade nach München zu holen: Im Oktober 1965 überrumpelt ihn Willy Daume, Mitglied des IOC, mit dem Vorschlag, München solle sich für die Olympiade 1972 bewerben. Vogel hat Bedenken, noch nicht mal 30 Jahre waren vergangen seit den beiden Olympischen Spielen unter Hitler. Er bat Daume um drei Tage Zeit. Drei Tage hat er diskutiert mit seinen engsten Kollegen und Mitarbeitern, dann signalisierte er Daume: ja. Nun mussten Gespräche geführt werden, mit dem Land Bayern, mit dem Bundeskanzler Ludwig Erhard. Als auch die Ja sagten, »hatten wir, liebe Frau Schneider, für die Bewerbung noch ganze sechs Wochen Zeit, bis wir unser Konzept in Lausanne präsentierten«.

Es gibt Momente in unserem Gespräch beim Tee, in denen einem wieder einfällt, warum er »Klarsichthülle« genannt wurde: Weil er sich an jedes Datum erinnert, sich noch Minuten später korrigiert, »es war der 1., nicht der 2. Dezember«; weil er auf meine Frage, ob es ihn stolz gemacht habe, als die Wahl auf München fiel, das Wort Stolz wiederholt, als sei es ein anderer Ausdruck für Kreisverwaltungsreferatsbekanntmachung. Nein, sagt er, stolz sei er nicht gewesen, aber »die Begeisterung in der Bevölkerung«, die habe ihn gefreut.

Ende November 1965 erst wurde den Münchnern offiziell mitgeteilt, dass sich die Stadt um die Olympischen Spiele 1972 bewerben wolle. Und Vogel sagt, für ihn sei es bis heute »ein Miracle, dass alle Leute, die in den Wochen davor davon wussten, dicht gehalten« hatten. Ein Miracle. Er spricht ein gepflegtes Münchnerisch, wie es mit seiner Generation aussterben wird; eines, dem man noch anmerkt, wie viele französische Ausdrücke es im Bairischen – gab –, muss man wohl sagen. »Böfflamott« , »es pressiert« und »merci dir« werden vielleicht noch eine Weile überleben.

In den 60 Tagen, die vergingen vom Entschluss bis zur Präsentation in Lausanne, wurde das Konzept der »heiteren Spiele« und der »Spiele der kurzen Wege« geboren. Sechs Jahre Zeit blieben, diese Idee Wirklichkeit werden zu lassen. »Es waren exactement sechs Jahre und vier Monate«, sagt Vogel.

Aber: Als es am 26. August 1972 so weit war, wurden die Spiele von Georg Kronawitter eröffnet, seit 1. Juli Münchner Oberbürgermeister. Ich hätte mir leicht denken können, dass Vogel meine Frage, ob ihn das nicht doch ein bissl gewurmt hat, von sich weist: »Ich war ja an den Vorbereitungen beteiligt, und die Verbindung meines Namens mit den Olympischen Spielen war fest genug.«

Dass die Spiele dann bei Gott nicht so heiter wurden wie erhofft, weil palästinensische Terroristen israelische Sportler ermordeten, trifft ihn bis heute tief. Und doch verteidigt er das Sicherheitskonzept: »Wie hätte das denn ausgesehen, so kurz nach dem Krieg, wenn wir eine Mauer um das Olympiagelände gebaut hätten?« Eine letzte Amtshandlung hat Hans-Jochen Vogel während der Olympischen Spiele noch vorgenommen: Er begleitete die Särge der getöteten Sportler nach Israel.

Kurz vor halb eins, Vogel geht gleich mit seiner Frau zum Mittagessen. Und sagt zum Schluss den Satz: »Jetzt sollten wir kurz freundlich Ihres Großvaters gedenken.«

Schau, Opa, jetzt hat der Vogel auch an Dich gedacht.

HANS-JOCHEN VOGEL
Er ist eine Münchner Legende, aber kein Münchner: Geboren 1926 in Göttingen, zur Schule gegangen in Gießen; der Einzige, der Bürgermeister zweier deutscher Millionenstädte war: München (1960-1972) und Berlin (1981). Er war auch: Kanzlerkandidat, Justizminister, SPD-Vorsitzender - und immer ein Vorbild an Korrektheit und Unbestechlichkeit.

Set-Design: Nina Lemm/liganord.de; Styling-Assistenz: Elena Mora

Fotos: Attila Hartwig, Daniel Mayer