»Niemand muss eine Allergie still leidend ertragen«

Immer mehr Menschen reagieren allergisch auf Pollen und Gräser. Woran liegt das? Was kann man dagegen tun? Die Allergologin Katja Nemat erklärt, warum die Pollensaison immer länger dauert, welche Vorteile Bauernhofkinder haben – und ob Betroffene besser abends oder morgens joggen gehen sollten.

Eine Maske kann helfen gegen Pollen in freier Wildbahn – wenigstens diese Erkenntnis brachte die Corona-Pandemie mit sich.

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SZ-Magazin: Rote Augen, fließende Tränen und Niesen, Niesen, Niesen. Warum kapituliert unser Körper vor so etwas Harmlosem wie Blütenstaub, Frau Nemat? 
Katja Nemat: Allergien sind im Grunde ein Irrtum des Immunsystems. Es ist darauf ausgelegt, fremde, potenziell gefährliche Antigene zu erkennen und Abwehrreaktionen im Körper einzuleiten, zum Beispiel Fieber oder Durchfall, um ein Virus loszuwerden. Auch Schnupfen ist sinnvoll, weil so die Viren mit dem Sekret aus der Nase fließen. Aber bei den Pollen liegt eine Verwechslung vor.

Unser Körper verwechselt Pollen mit gefährlichen Viren?
So ähnlich. Bei einer Allergie hält unser Immunsystem eigentlich harmlose Umwelt-Antigene für abwehrwürdig. Die Immunzellen haben die sogenannten Allergene dann im Gedächtnis gespeichert und leiten beim erneuten Kontakt eine körperliche Reaktion ein. Das macht Allergien so merkwürdig – an ihnen ist nämlich rein gar nichts sinnvoll. Trotzdem haben Allergien in den vergangenen Jahren zugenommen – wir gehen davon aus, dass aktuell rund 30 Prozent der Erwachsenen und bereits jedes vierte Kind in Deutschland unter Allergien leiden Das hat auch mit der modernen Lebensweise in den Industrienationen zu tun. Stark vereinfacht könnte man sagen: Unserem Immunsystem ist in unserer sauberen und keimfreien Welt ein bisschen langweilig. Es beschäftigt sich mit dem, was es findet – und das sind oft die harmlosen Pollen.

Kann man daraus schlussfolgern, dass Kinder wieder öfter im Dreck wühlen sollten? Härtet das ab?
Tatsächlich sind solche Überlegungen Gegenstand der Forschung. Die Faktoren, die eine Schutzwirkung gegen die Ausbildung von Allergien haben, müssen aber noch genauer erkannt und definiert werden, um allgemeine Empfehlungen zur Vorbeugung zu geben. Und natürlich dürfen solche Präventionsempfehlungen auch nicht schaden. Aufrufe zum Nicht-Händewaschen vor dem Essen etwa könnten andere Erkrankungen hervorrufen. Und die heutigen Hygienestandards haben ja auch Vorteile: Die Säuglingssterblichkeit ist zum Beispiel viel geringer als in früheren Generationen, schwere Infektionserkrankungen im Kindesalter sind stark zurückgegangen.  

Es gibt Studien, wonach Menschen, die auf einem Bauernhof aufgewachsen sind, seltener Allergien entwickeln.
Viel seltener, das ist richtig, auch wenn die Mutter sich während der Schwangerschaft regelmäßig im Kuhstall aufgehalten hat. Es wird noch überlegt, wie man aus diesem »Bauernhof-Effekt« wirklich brauchbare Empfehlungen – zum Beispiel auch für Stadtkinder – ableitet.