SZ-Magazin: Herr Adler, können Sie uns sagen, was in so einer Zeit der Krise mit uns Menschen passiert?
Anthony Adler: Der Wunsch, alles verstehen zu wollen, führt uns in die Irre. Auch weil es in dieser Krankheit keine abgeschlossene Informationslage gibt. Die Krankheit ist dynamisch, und ebenso dynamisch sind im Moment unsere Erkenntnisse. Sie passen sich täglich der Situation an. Die Lust, die Gesamtheit der Ereignisse auszudeuten, führt zu falschen Schlüssen.
Und trotzdem ist der Wunsch da. Warum?
Wir fühlen eine Notwendigkeit zu handeln. Bei Covid-19 gibt es aber zunächst keine sichtbare Notwendigkeit für eine Handlung: Das Virus ist kein Feuer, keine Welle, kein Orkan. Unsere Generation hat wenig praktische Erfahrung mit globalen Katastrophen, wir kennen sie eher aus dem Fernsehen. Wir antizipieren den Spannungsbogen eines Films – und nun erwarten wir mit großer Gewissheit das drohende Unheil. Im Film gibt es aber immer eine Deutung: Warum ist die Katastrophe passiert? Und es gibt immer einen Helden oder eine Heldin: Wer siegt über die Katastrophe? Die Mutigen, die Ehrbaren. Aber diese reale Katastrophe des Virus ist eine ganz andere. Der Erkenntnisgewinn und die Handlungsoptionen gestaltet sich zäh. Vielleicht gibt es irgendwann ein weiteres Detail über die Möglichkeiten der Ansteckung, vielleicht einen Impfstoff. Aber wir merzen das große Böse – das Virus und die daraus folgenden Erkrankungen – nicht mit einem Mal aus, sondern wir müssen uns täglich neu an es anpassen. Die Richtschur für alles Handeln ist derzeit die Verfügbarkeit von Beatmungsmaschinen. Das ist im gelernten Sinne eines Katastrophenfilms sehr unbefriedigend.