Ende Oktober, kurz vor Allerheiligen 2004, färbte sich das Weiß in Mamis Augen gelb. Ich fuhr mit ihr ins Krankenhaus. Man legte sie auf den Gang, weil keine Betten frei waren. Stunden warteten wir darauf, dass ein Arzt sie untersuchte. Mami machte Witze: Wie lange man sie hier noch festhalten wolle, sie habe doch Chorprobe fürs Weihnachtskonzert?
Als um neun Uhr am Abend noch nichts passiert war, wollte ich sie wieder mit nach Hause nehmen und ging zum Assistenzarzt. »Die Gelbsucht ist ernst, die Werte sind lebensbedrohlich«, entgegnete er. Ich wollte sofort den Oberarzt sprechen, doch der hatte nur noch Bereitschaftsdienst. »Dann holen Sie ihn.« Als der Oberarzt kam, entschuldigte er sich. »Es war so ein stressiger Tag, ich musste erst mal heim und ein Schinkenbrot essen.« Mami und ich sahen uns amüsiert an. Es war klar, dass wir ihn von da an nur noch »das Schinkenbrot« nennen würden. Das Schinkenbrot wollte sie gleich untersuchen. Ich fragte, ob ich mitkommen könne. »Sie müssen! Es ist keiner mehr da, Sie müssen das Bett mit mir schieben.« Während der Endoskopie wartete ich auf dem schwach beleuchteten Gang und war mit meinen Gedanken und Gebeten allein. Ich dachte an meinen Mann, meinen Bruder und dessen Frau, die zu Hause auf meinen Anruf warteten. Den ganzen Tag hatte ich sie vertrösten müssen und nur gesagt, dass es nichts Neues gebe.
Mami war schon achtzig, aber immer bei bester Gesundheit gewesen. Und jetzt diese stechenden Bauchschmerzen, die Appetitlosigkeit, die Gelbsucht. Im Dunkeln, vor dem Behandlungszimmer, wurde die Möglichkeit ihres Todes auf einmal real. Mein Vater starb, als ich 15 war und mein Bruder elf. Er war auf dem Fahrrad von einem Auto erfasst worden. Meine Mutter hat Jahre getrauert, ach was, Jahrzehnte. Nie wieder wollten wir Kinder sie leiden sehen. Nie wären wir von ihr weggezogen. Mein Bruder wohnte über ihr im Elternhaus und ich mit meiner Familie im selben Dorf, keine zehn Minuten entfernt.
Die Tür zum Untersuchungsraum ging auf, der Oberarzt schüttelte ernst den Kopf. Er bat mich hinein, während Mami auf Station gebracht wurde. Ich drückte ihr noch die Hand, sie sah mein sorgenvolles Gesicht. »Bis gleich«, sagte ich. Das Schinkenbrot erklärte, sie habe ein Pankreaskarzinom, weit fortgeschritten. Ein Tumor an der Bauchspeicheldrüse habe den Gallengang blockiert. Daher die Gelbsucht. Mit einem Stent habe er den Zufluss wieder freigelegt. Ich fragte nach der Prognose. Achselzucken. »Ein Vierteljahr oder ein halbes«, sagte er. Und nach einer Pause: »Sagen Sie ihr heute nichts mehr.«
Ich fuhr direkt zu meinem Bruder und seiner Frau. Wir weinten viel in dieser Nacht, und wir trafen eine Entscheidung: Wir werden Mami nichts sagen. Heute nicht und morgen nicht und übermorgen auch nicht. Nur wenn sie explizit nachfragt. War sie nicht jemand, der die Sachen nie so genau wissen wollte? Sie war gut darin, Schlimmes von sich fernzuhalten, es war ihre Überlebensstrategie nach dem frühen Tod ihres Mannes gewesen.
Auf der anderen Seite: Wie kann man jemandem verschweigen, dass er todkrank ist? Erst recht jemandem, den man liebt? Bis zum letzten Atemzug ist es der Mensch gewohnt, frei zu entscheiden: Palliativmedizin, Sterbehilfe, Freitod. Hatten wir das Recht, Mami diese Entscheidung abzunehmen? Zumal die Medizin heute doch immer die Machbarkeit propagiert: ein neues Hüftgelenk mit 85, Chemo mit neunzig, alles keine Seltenheit. Juristisch gesehen dürfen Ärzte die Diagnose ihren Patienten nicht verschweigen, sie müssen sie über Therapiechancen und Krankheitsverlauf informieren. Nur in ganz seltenen Fällen, etwa bei Suizidverdacht, sind sie von dieser Mitteilungspflicht befreit.
Haben sich die Ärzte bei meiner Mutter daran gehalten? Schwer zu sagen. Vieles wurde nur vage ausgedrückt. Zum Beispiel am nächsten Tag im Krankenhaus, diesmal waren auch der Chefarzt, mein Bruder und dessen Frau anwesend. Die Worte Bauchspeicheldrüse und Tumor fielen nicht. Auch von Krebs war nie die Rede. Man sprach von einer Geschwulst. »Aber die kann man doch entfernen?«, fragte Mami. Der Chefarzt sagte: »Ja, könnte man. Jetzt behandeln wir erst mal Ihre Gelbsucht, und über eine Operation oder eine Chemotherapie kann man zu einem späteren Zeitpunkt noch nachdenken.« Draußen vor ihrem Zimmer, nach der Untersuchung, wollten wir wissen, ob der Chefarzt tatsächlich eine OP in Erwägung zog. »Man müsste einen Teil des Magens und Dünndarms sowie die Galle entfernen, das ginge schon.« Seine Sätze verunsicherten uns, wir hatten uns doch schon entschieden. Ich rief das Schinkenbrot an. »Ich würde es nicht machen«, sagte er. »Ich würde sie überhaupt nicht mehr ins Krankenhaus bringen, es sei denn, die Gelbsucht kommt zurück. Das Beste, was Sie jetzt tun können, ist, ihr die verbleibende Zeit möglichst schön zu machen.« Und so blieben wir bei unserer Entscheidung.
Wenige Tage später war die Gelbsucht abgeklungen, und Mami kam nach Hause. Sämtliche Verwandte und Freunde erkundigten sich nach ihr. Das hatten wir nicht bedacht: Wir mussten jetzt lügen. Ihre Schwester und ihre Schwägerin waren besonders hartnäckig: Was war die Ursache für die Gelbsucht? Du warst acht Tage im Krankenhaus, und die haben nichts gefunden? Sie insistierten. Wir eierten herum. Es war schlimm. Aber ich fand, die anderen hatten kein Recht auf die Wahrheit, wenn nicht einmal unsere Mutter die Wahrheit kannte. Nur wenige Angehörige haben wir eingeweiht. Natürlich haben wir mit unserer Entscheidung einige überstimmt, auch ihre Enkel. »Ihr wollt sie einfach so sterben lassen?«, fragte meine Tochter weinend am Telefon. Ich beruhigte sie, erklärte ihr unsere Beweggründe, aber sie blieb nicht die Einzige.
Als meine Schwägerin Mami zu ihrem langjährigen Hausarzt begleitete, hatte sie den Befund aus dem Krankenhaus dabei, und auch er fragte diskret: »Wollen Sie ihr wirklich die Diagnose verschweigen?« Schließlich respektierte er unseren Wunsch. Er hat nie etwas gesagt. Von ihm bekam Mami von nun an die starken Schmerzmittel und in den letzten Wochen auch Morphium-Pflaster. Bauchspeicheldrüsenkrebs zählt zu den schmerzhaftesten Krebsarten.
Meistens dämmten die Medikamente die Schmerzen gut ein. Mami merkte nichts. Nur einmal, sie war seit Monaten wieder zu Hause und hatte abgenommen, sagte sie: »Vielleicht ist es doch Alterskrebs.« Ich musste schlucken. »Der Doktor damals im Krankenhaus meinte doch, eine Chemo würde womöglich helfen.« Ich sagte nichts.
Ich ertrug den Gedanken an eine Chemotherapie bei meiner achtzigjährigen Mutter nicht – die Übelkeit, der Haarausfall, ein langer Krankenhausaufenthalt –, und doch ließ mich ihr Satz erneut zweifeln. Wieder rief ich das Schinkenbrot an. »Sie redet von Chemotherapie. Was machen wir jetzt?« – »Sagen Sie ihr, wir versuchen es weiter konservativ.« Ich folgte seinem Rat, und Mami fragte nicht, was »konservativ« bedeutete. Und auch nicht, ob es reichen würde.
Ich könnte sagen, jener Oberarzt sei an allem schuld. Aber das stimmt nicht. Wir haben es beschlossen. Ich allen voran. Vielleicht hätte sie mit OP und Chemo länger gelebt. Aber auch besser? So oft hat sie auch nach der Diagnose zu mir gesagt: »Ich hatte doch ein gutes Leben.« Das Schlimmste war: Obwohl sie so krank war, konnte ich sie nicht viel öfter besuchen als sonst. Sie hätte sofort Verdacht geschöpft. Einmal, als ich zu ihr fuhr, dachte ich: Jetzt sage ich es ihr. Aber ich wusste nicht, wie. Ihre Hand nehmen und ein feierliches Gesicht aufsetzen? So ein Pathos hätte nicht zu uns gepasst.
Heute frage ich mich manchmal, ob sie mir innerlich Vorwürfe gemacht hat. Ich erinnere mich an ihre fragenden Augen, als sie schon abgemagert war und immer blasser und kleiner zu werden schien. Vielleicht dachte sie, meine Tochter muss doch merken, dass ich es wissen will. Aber Mami gehörte einer Generation an, die das eigene Sterben nicht groß verbalisiert hat.
Der Oberarzt hatte ihr maximal ein halbes Jahr gegeben, das hatte sie längst überlebt. Sie war fröhlich. Den Sommer über fuhr sie auf ihrem Fahrrad durchs Dorf, sang im Chor und werkelte im Garten. »Schau mal her, jetzt hab ich wieder abgenommen«, sagte sie manchmal verärgert, aber dann setzte sie sich an ihre geliebte Nähmaschine, an der sie so viele Faschingskostüme für die Kinder genäht hatte, und machte ihre Kleider wieder ein Stück enger.
Fast ein Jahr nach der Diagnose ging es zu Ende. Ich war dabei, ein Fest für meinen Mann vorzubereiten, er wurde sechzig. Sie war zu schwach, um eine Karte für ihn zu schreiben, und bat mich, das zu übernehmen. Sie diktierte, ich schrieb – und musste mich zusammenreißen, dass keine Tränen auf die Karte tropfen.
Ein paar Tage später rief mich meine Schwägerin weinend an und sagte: »Sie möchte das Grab bepflanzen, stell dir vor, ich soll mit ihr Blumen kaufen!« Seit dem Tod ihres Mannes hatte sie jedes Jahr vor Allerheiligen dessen Grab bepflanzt, 43 Jahre lang. Ich beruhigte meine Schwägerin: »Ich komme vorbei.« Als ich kam, sah ich Mami über die Stiefmütterchen gebeugt. Sie bepflanzte das Grab, in dem sie wenig später selbst liegen sollte. So makaber kann das Leben sein.
Zum Friedhofsgang an Allerheiligen kam es nicht mehr. Sie war zu schwach und konnte nicht aufstehen. Ihre Enkel besuchten sie, um sich zu verabschieden. Einen Tag und eine Nacht haben wir gemeinsam an ihrem Bett gesessen und gesungen, geweint und gebetet. Der Tod kam friedlich zu ihr nach Hause.