Der Aperol Spritz der Achtziger

Foto: Maurizio Di Iorio
Es gibt Orte, die sind legendär, und man weiß nicht, warum, zum Beispiel »Harry’s Bar« in Venedig. Das ehemalige Lager einer Seilerei ist winzig, die Tische stehen so eng, man fühlt sich wie in einer Schiffskajüte, es gibt keine Terrasse, die Schwarz-Weiß-Bilder an der Wand sind peinlich, die Drinks zu teuer, die Gerichte auch. Es ist ein bisschen wie mit der Mona Lisa: Jeder glotzt sie an, macht ein Selfie, drängelt sich vor, aber niemand kann erklären, aus welchem Grund. Man hat davon gehört, man hat darüber gelesen, und am Ende spürt man tatsächlich ihre Aura, weil man sie spüren will.
»Harry’s Bar«, 1931 vom Barkeeper Giuseppe Cipriani westlich vom Markusplatz eröffnet, gilt als mondäner Ort, weil er jeden Abend aufs Neue von ein paar wenigen Gästen dazu gemacht wird, die sich für zwei, drei Stunden in seiner Geschichte spiegeln wollen. Wer an ihrem (winzigen) Tresen steht, kennt die Namen derer, die aus diesem unscheinbaren Zimmerchen mit der beängstigend niedrigen Decke einen Mythos gemacht haben: Hier betäubten in den Dreißigerjahren des vergangenen Jahrhunderts junge Aristokraten ihre Langeweile, hier soffen Orson Welles, Truman Capote und Ernest Hemingway, der die Bar in seinem Roman Über den Fluss und in die Wälder verewigte, hier nippte die amerikanische Kaufhaus-Erbin Barbara Hutton, so was wie die Dagmar Wöhrl des 20. Jahrhunderts, an Cocktails, und ja, es ist nicht unwahrscheinlich, dass ein Bellini dabei war, ein fruchtiger Sommer-Aperitif aus Champagner oder Prosecco mit püriertem weißem Pfirsich, so elegant wie einfach.
Es war Giuseppe Cipriani, der den Drink kreiert hatte und 1948 auf den Namen Bellini taufte, weil gerade eine große Ausstellung des bedeutenden Renaissancemalers Giovanni Bellini in Venedig gastierte. Der Bellini war in der Nachkriegszeit das, was in den Achtzigern der Swimming Pool, in den Neunzigern der Caipirinha und später der Aperol Sprizz werden sollte, ein Terrassen- und Trendgetränk. Ich habe seit Jahren niemanden mehr mit einem Bellini gesehen, außer natürlich in »Harry’s Bar«, da bestellen ihn Menschen, die auf
Ich war zuletzt im Winter in Venedig, um einen Freund zu besuchen, der für ein paar Monate eine Wohnung in der Nähe des Campo de la Fava genommen hatte, um an einem Roman zu arbeiten. Wir waren fast die einzigen Gäste in der Stadt. Tagsüber spazierten wir durch die Stadt, saßen in Kirchen, betrachteten Gemälde, nachts tranken wir trockenen Rotwein, und wenn ich von seiner Wohnung zurück in mein kleines Hotel lief, sah ich keine Menschen, immer nur Nebel, und meine Schritte hallten zwischen den alten Mauern und Souvenirläden. Es war gespenstisch schön, ein bisschen wie in Wenn die Gondeln Trauer tragen. Venedig präsentierte sich genau so, wie man es von dieser Stadt erwartet: bereit zum Untergang.
Natürlich waren wir an meinem letzten Abend in »Harry’s Bar«. Die Rechnung war exorbitant. Ich werde nie den Moment vergessen, wie mein Freund, der einen maßgeschneiderten Tweed-Anzug aus London trug, eine EC-Karte von der Sparkasse aus der Hosentasche zog und dem Barkeeper in die Hand drückte. Lässiger hätte Hemingway es auch nicht hingekriegt. Auf der Rechnung stand kein einziger Bellini, natürlich nicht.