Nonstop Konsens

Bundeskanzlerin Angela Merkel glänzt im Ausland. Zu Hause aber verkommt die Politik zum ständigen Palim, Palim.

Es ist wie ein Wunder. Noch vor acht Monaten war die Republik dem Untergang geweiht. Mit schreckgeweiteten Augen sahen wir der ökonomischen Verelendung entgegen. Naturkatastrophen, Kulturkampf und globalisierte Heuschreckenschwärme rüttelten an den Zäunen unserer Vorgärten. Dann kam der Regierungswechsel. Heute liest man in den Zeitungen, wir seien Exportweltmeister und die drittstärkste Wirtschaftsnation der Welt. Das waren wir vorher schon. Auch bei den Arbeitslosenzahlen und dem zerrütteten Zustand der sozialen Sicherungssysteme hat sich wenig getan. Geändert hat sich das Wetter und die Stimmung im Land. Beides ist nicht den Taten der Großen Koalition zu verdanken. Dennoch unterstützt das Wahlvolk mit fantastischen Zustimmungsquoten eine Kanzlerin, der es bislang vor allem gelungen ist, bei ihren Antrittsbesuchen in den Hauptstädten der Welt nicht vom roten Teppich zu fallen. Statt konsequente Fortführung begonnener Reformen einzufordern, winken die Bürger glotzäugig die größte Steuererhöhung in der Geschichte der Bundesrepublik durch und lassen sich durch die Fußball-WM von Hartz-IV-Streit, Föderalismusproblemen und völlig unklaren Vorhaben auf dem Gesundheitssektor ablenken. Seit das Nicht-Regieren eine eigene Kunstform geworden ist, treibt es erstaunliche Blüten. Welches Geheimnis verbirgt sich hinter Merkels Erfolgen? Ein bewährter »Trick« post-feministischer Frauen besteht darin, sich kräftig unterschätzen zu lassen, um dann durch Einhaltung der Normalnull-Linie den Eindruck einer brillanten Leistung zu erzeugen. Auch hat Frau Merkel die abgekühlten transatlantischen Beziehungen auf kuschelige Zimmertemperatur angewärmt. In der schnelllebigen Mediengesellschaft ist der Irakkrieg auf diese Weise wie durch Zauberhand zu einem Problem der Ära Schröder geworden und jene Deutschen, die noch vor wenigen Jahren in Millionenscharen gegen die militärische Intervention im Mittleren Osten demonstrierten, gönnen sich heimlich ein erleichtertes Aufatmen. Darüber hinaus scheint die Kanzlerin eine Glückssträhne zu haben. Erst macht sich Gerhard Schröder zum Reform-Buhmann, woraufhin sich Frau Merkel als Mutter der Mäßigung präsentiert. Gleichzeitig bindet die Vogelgrippe für Wochen die Untergangsängste der deutschen Hysterikernation, so dass sich der Staat – ebenso wie beim glücklich aufgelösten Geiseldrama um zwei Leipziger Ingenieure – zur Abwechslung mal wieder als liebender Vater zeigen kann. Zu allem Überfluss lässt eine poröse Besserung der Wirtschaftsdaten die Stimmungsmache der Medien in die nächste Haarnadelkurve gehen. Über alldem strahlt die Kanzlerin als eine Ikone der Ermüdeten, als Flaggschiff der politischen Resignation. Denn das vorherrschende Gefühl ist nicht Zuversicht. Sondern Erleichterung über eine Pause im notorischen Gejammer. Und genau hier liegt ein verblüffendes Phänomen. Einst galt die Auseinandersetzung zwischen politischen Ideen als das Wesen der Demokratie. Heute wird Frau Merkel dafür gepriesen, dass sie ultimative Harmonie in die politische Debatte gebracht hat. Die Wähler sind glücklich, wenn die endlose Streiterei einem Ringelpiez mit Anfassen weicht. Man setzt sich an einen Tisch, ist nett zueinander und erklärt kleine Brötchen zum gemeinsamen Leibgericht. Das funktioniert, weil ein uneingeweihter Beobachter niemals entscheiden könnte, welcher Minister zu welcher Partei gehört. Auf beiden Seiten des politischen Lagers regiert aufgeklärte Sozialdemokratie, gepaart mit einem Wirtschaftsliberalismus (neudeutsch: »Sachzwang«), der allseits als unausweichlich empfunden wird. Selbst die Chefin einer konservativen Partei würde es nicht wagen, sich zur Gruppe der Starken und Erfolgreichen zu bekennen. Sie dürfte nicht laut sagen, dass sie ihre Arbeitskraft den ökonomischen und kulturellen Trägern dieses Systems widmen will, statt sich vom Wehklagen über soziale Ungerechtigkeiten paralysieren zu lassen. Das käme einer Eintrittskarte zum Club der Unmenschen gleich. Auf der anderen Seite besitzt die Kanzlerin nicht genügend Macht (oder Bereitschaft), um Wirtschaft und Industrie, die sich permanent auf die Härten der Globalisierung berufen, in ihre Schranken zu weisen. Völlig ungeklärt bleibt, ob Aussagen wie die beispielhaft genannten überhaupt der Meinung der Kanzlerin entsprechen. Vor der Wahl im Herbst 2005 wurde Frau Merkel gern als Mysterium porträtiert. Ihr politisches Profil hat nach wie vor das Zeug zur Quizfrage.

Erstaunlicherweise scheint diese Profillosigkeit zur politischen Lage zu passen. Politik beschränkt sich hierzulande seit langem auf die Frage, wie die desolate Finanzlage zu konsolidieren sei. Ohne zu entscheiden, wo unsere längerfristigen Prioritäten liegen, betätigen sich sämtliche Politiker als Löcherstopfer. Das Kabinett wird zu einem think tank für die Entwicklung von Notlösungen, Regieren zur Übung in angewandtem Pragmatismus. Und die Regierungschefin leistet Großes als eine Mischung aus Moderator, Außenhandelsvertreter und Pressesprecher. Und das macht sie nicht schlecht. Was sie zu dieser Rolle qualifiziert, ist gerade das Fehlen von identitätsstiftenden Kennzeichen. Frau Merkel kommt aus Ostdeutschland, ohne ein »Ossi« zu sein. Sie ist bei den Christdemokraten, steht aber nicht für christliche Werte. Sie ist eine Frau und kümmert sich nicht um weibliche Belange. Sie hat einen Doktortitel in Physik, ohne sich mit dem akademischen Leben zu identifizieren. Sie ist weder konservativ noch sozial noch liberal. Man könnte meinen, dass es sie gar nicht gibt. Gerhard Schröder hat vorgemacht, wie man für eine Partei ins Kanzleramt einziehen kann, ohne sich allzu sehr mit ihren Prinzipien zu belasten. Dafür nannte man ihn einen Machtmenschen und Medienkanzler. Aber im Vergleich zu Frau Merkel war Schröder geradezu ein Mann der Ideen. Die Kanzlerin musste nur noch das Machtgetue und den Medienrummel weglassen, um zur leeren Projektionsfläche zu werden. Und die Leute danken es ihr. Somit lebt der Merkel-Erfolg vom perfekten Andocken an die aktuelle Mentalität. Wir befinden uns an einem Punkt in der geistesgeschichtlichen Entwicklung, an dem kollektiv gestützte Gewissheiten weitgehend einem – auch politischen – Individualismus gewichen sind. Gesellschaftliche Institutionen wie Kirche, Familie und Vaterland haben an Einfluss verloren. Erfreulicherweise wurde auch die Bedeutung politischer Ideologien von den Dekonstruktionsbemühungen der Postmoderne zurückgedrängt. Effekt dieser Prozesse ist eine Weltanschauung, in der Vernunft vor Prinzipien rangiert. Auf den leeren Schlachtfeldern vergangener Überzeugungskämpfe macht sich der Pragmatismus breit. Ratlos stehen die Menschen vor dem Wahlzettel, weil ihr Politikverständnis nicht von der Identifikation mit einer bestimmten Partei bedingt wird. Entsprechend werden sie von Kompetenzteams und Expertengremien regiert. Das im alten Sinn Politische sammelt sich in kleinen Gruppierungen – und wirkt dort bereits ein wenig unzeitgemäß. Sieht es also schlecht aus für die Parteien-demokratie, aber umso besser für einen nüchternen, problemorientierten Regierungsstil? Das mag stimmen und vielleicht ist ein Teil der guten Stimmung im Land auf eine zunehmende Anpassung der Politik an die Seelenlage der Bevölkerung zurückzuführen. Es sollte aber nicht vergessen werden, dass das Fehlen von Überzeugungen nicht nur ideelle, sondern auch praktische Nachteile besitzt. Ohne Zukunftsvision ist es schwierig, tragfähige Konzepte zu entwickeln, die über das Entscheiden auf case-to-case-Basis hinausgehen. Der Politik fehlt es an Rückgrat gegenüber den klar definierten Interessen der Wirtschaft und die Politiker neigen zur Wankelmütigkeit, um nicht zu sagen: zum Opportunismus. Zwar begünstigt Sachlichkeit die Bereitschaft zu Kompromissen. Resultat sind jedoch totverhandelte politische Wolpertinger wie die Reichensteuer, das Elterngeld und die reformierte Ich-AG. Hinzu kommt, dass die Menschen mit dem Niedergang gesellschaftlicher Institutionen auch das Gefühl für sozialen Rückhalt im außerstaatlichen Bereich verloren haben. Wenn weder Familie noch Kirche für Sinnstiftung und Sicherheitsnetze sorgen, sehen die Bürger im Staat ihren einzigen Helfer in der Not. Entsprechend panisch reagieren sie auf die Abwesenheit von klaren Zukunftsaussagen – genau wie auf jeden vorsichtigen Hinweis, der ihnen sagen soll, dass sie, Sozialdemokratie hin oder her, in erster Linie selbst für ihr Leben verantwortlich sind. Bevor wir aber zu ausführlich über solche Fragen nachdenken, freuen wir uns lieber noch ein bisschen über eine Kanzlerin, die selbst der amerikanische Präsident als klare Denkerin lobt, auch wenn nicht gesichert ist, ob George Bush auf diesem Gebiet als Fachmann gelten kann. Und was passiert, wenn die kleinen Brötchen verzehrt sind und irgendein Ereignis in der politischen Lage nach deutlichen Entscheidungen verlangt? Dann wird sich zeigen, ob Angela Merkel mit den »Mechanismen von Zerfallsreaktionen mit einfachem Bindungsbruch« auch in der politischen Realität umgehen kann. Immerhin hat sie in ihrem Erstberuf eine Doktorarbeit darüber geschrieben.