»Die Frage ist: Wer sind wir Deutschen?«

In der Ära von Trump und Putin muss sich Deutschland neu zurechtfinden. Ein Gespräch mit Ex-Außenminister Joschka Fischer über den Neo-Nationalismus, Schröders Draht in den Kreml und späte Erkenntnisse seiner Generation.

Selbstreflexion: Joschka Fischer wirft im Interview auch einen Blick auf sein jüngeres Ich.

Das Gespräch findet auf Wunsch von Joschka Fischer im Berliner Lokal »Sale e Tabacchi« statt, unweit des Checkpoint Charlie, das ein italienischer Freund von Fischer aus alten Sponti-Zeiten führt. Der Fotograf hat dort ein kleines Set aufgebaut, aber Fischer bricht schon nach vier Minuten ab: »So, jetzt ist genug!« Seine 77 Jahre sieht man ihm nicht an, nur der Gang ist lang­samer geworden. Mit Antworten lässt sich der Außen­minister a. D. oft Zeit, spricht krächzig wie eh und je. Small Talk ist nicht sein Ding. Er bestellt einen Espresso und trinkt ihn nicht. Zum Essen empfiehlt er Spaghetti alle vongole, fragt zwischendurch: »Schmeckt’s euch?« Nach zwei Stunden setzt er seinen Hut auf und ver­abschiedet sich, die Hunde warten daheim. Es sind zwei, beide in Pflege genommen, einer aus Afghanistan.

SZ-Magazin: Herr Fischer, was haben Sie gedacht, als J. D. Vance bei der Münchner Sicherheitskonferenz Anfang dieses Jahres mit Europa abrechnete?
Joschka Fischer: Kann ich Ihnen nicht sagen.

Warum nicht?
(schweigt, lacht) Nein, kann ich Ihnen nicht sagen.

Waren Sie geschockt?
Nö. Was hatte man erwartet von Trumps Vize­präsidenten? Weihrauch?

Die Alarmstimmung danach war groß.
Ja. Da sind Leute aufgewacht, die sich zuvor in seligem Dämmerzustand befunden hatten. Für mich war das kein Schock, eher eine Bestätigung.

Für was?
Trump hat in einem Punkt recht: Die Europäer, vorneweg die Deutschen, haben sich mit ihrem Beitrag zu ihrer eigenen Sicherheit einen schlanken Fuß gemacht.

Fehlt den Deutschen ein Selbstverteidigungs-Ethos?
Nein. Aber in der langen Zeit unter amerikanischer Protektion sind die Deutschen nach 1945 in Ost und West zu strukturellen Pazifisten geworden. Mit guten Gründen. Und jetzt sind wir allein. Deswegen muss Europa unsere Antwort sein – Europa nicht nur als EU, dass Sie mich nicht missverstehen. Ich glaube nicht, dass die EU der geeignete Rahmen für ein abschreckungsfähiges, verteidigungsfähiges Europa ist. Dazu gehört Großbritannien, dazu gehört Norwegen als ganz wichtige Nationen. Wir haben die NATO – noch! Die Frage ist, wie lange noch. Aber ich würde nicht dazu raten, dass wir uns allein auf sie verlassen.

Was sagen Sie den Deutschen, die besorgt auf die gegenwärtige Militarisierung blicken?
Furcht ist nicht angebracht, aber kritische Skepsis. Der historische Fehler der frühen Deutschnationalen im Kaiserreich: Sie zogen nicht die Konsequenzen aus unserer Mittellage. Deutschland liegt in der Mitte Europas. In einer kritischen Größe, zu groß für Europa, zu klein für die Welt. Allein unsere Lage schafft ein extrem komplexes und heraus­forderndes außenpolitisches Umfeld. Wäre – was damals nicht im Angebot war – die erste deutsche Einheit 1871 von Bismarck mehr in einem europäischen Sinne gestaltet worden, wäre uns viel erspart geblieben. Ohne Deutschland wird auch heute noch keine europäische Verteidigungsfähigkeit herzustellen sein. Das geht nur gemeinsam mit Frankreich. Nie wieder allein – das muss die erste Konsequenz sein, auch im eigenen Interesse.