"Sie sahen glücklich und frei aus"

Am 20. Januar 2009 segelten sieben Jugendliche bei hohen Wellen in den Hafen von Mehdiya. Das Schiff kenterte - und nur Tama überlebte. Eine Geschichte von jetzt.de

Tama* malt Wellen. Sie trägt Wollsocken und Hose mit Loch, stapelt in ihrem Zimmer Bücher und Musik, aber nur so viel, wie in einen Koffer passt. Keine Möbel. Tama ist vor Monaten in Innsbruck angekommen und noch immer auf Reisen.

Weiter weg vom Meer kann man kaum sein. Draußen blickt sie auf steile, verschneite Berggipfel. Die Stadt wirkt von jeder Seite von den Alpen bedrängt, zusammen geschoben, beschattet. Und trotzdem beschützt.

In ihrer Küche in Innsbruck malt Tama*, 19 Jahre alt, Wellen auf ein Stück Leinwand während sie spricht. Eine nach der anderen. Sie spricht ruhig, fast melodisch, aber langsam. Ohne die Wellen wären vielleicht die Pausen, die sie zwischen Frage und Antwort lässt, weniger lang. Ohne die Wellen wäre ihre Geschichte eine, die fröhlicher und leichter erzählt werden kann als die, die in Barcelona beginnt, an einem Abend im November 2008 am Strand, an dem sich Tama ein bisschen langweilt und es schon dunkel ist. Jemand spielt Gitarre, andere jonglieren, viele sind jung, Erasmusstudenten und Abiturienten, die wie Tama erstmal was von der Welt sehen wollen, um sich klarzuwerden, ob sie eine Ausbildung machen oder studieren oder nichts von alledem.

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Immer wieder wird sie gefragt, was sie machen will – jetzt, wo die Schule vorbei ist? Aber das ist die falsche Frage, denkt Tama. Wie soll sie sich für ein Studium entscheiden, solange sie noch nicht weiß, wer sie eigentlich ist? Wie soll sie sich entscheiden, solange die Welt so fremd ist? Also ist Tama nach Barcelona gekommen. Es hätte auch jede andere Stadt in Europa sein können, in der Tama die Suche nach ihrer Zukunft beginnt. An diesem Abend im November fragt ein Mädchen mit verfilzten Haaren Tama nach einer Zigarette. „Ein Punkt, auf den vieles zurückzuführen ist“, sagt sie, denn ohne Veronika wäre sie nicht auf das Boot gestiegen.

Veronika reist zusammen mit Alex, einem Freund. Die Drei finden sich spannend, Veronika, Alex und Tama, von Anfang an. In Tamas Tagebuch liegt ein Foto von Veronika, die an einer Laterne lehnt, im Hintergrund eine Straße und ein Schild. Darauf steht ein Zitat des Liedermachers Fabrizio d´André:
„dai diamanti non nasce niente, dal letame nascono i fiori“.

„Aus Diamanten wächst nichts, aus Mist wachsen Blumen“.

„Vero war auch auf der Suche“, sagt Tama. Ein paar Wochen lebt sie mit Veronika und Alex in der Wohnung in Barcelona, die Tama von einem Bekannten überlassen bekommen hat. Im Dezember wollen Veronika und Alex weiter. Tama geht mit.

Silvester verbringen die Drei in den spanischen Bergen, dann trampen sie weiter nach Almeria. Alex und Veronika haben von einem Segelschiff namens "Taube" gehört, an Bord junge Leute, die nach Südamerika segeln wollen. Im Hafen von Almeria müssen sie nicht lange nach der Taube suchen. Der Rumpf ist bunt bemalt. Nahezu alles, was an Bord gehört, liegt zum Sortieren um das Boot herum – Schwimmwesten, ein paar Säcke Bohnen, Seekarten und Rettungsmittel. An einer Leine hängen Kleider zum Trocknen.

Die Taube hat zu diesem Zeitpunkt schon eine weite Reise hinter sich. Im Spätsommer 2007 beschliessen ein paar junge Leute aus Tübingen mit einem eigenen Boot nach Südamerika zu reisen. Sie wollen nicht unnötig CO2 produzieren, sie wollen den direkten Kontakt zu den Menschen suchen – das Boot soll ein Zeichen für Völkerverständigung werden. Sie gründen den Verein Migrobirdo und kaufen an der Ostsee ein acht Meter langes Segelboot. Die Taube.

Die Renovierung des Schiffes dauert länger als geplant. Erst Mitte Oktober legt das kleine Boot endlich ab. Auf der Ostsee ist es zu der Zeit nicht mehr allzu gemütlich. Im Cockpit kommen Wellen über, die Ersten werden seekrank, das Tageslicht schwindet schnell und ohne Heizung ist es an Bord kalt und nass. Im Tagebuch der Taube steht am 24. Oktober 2007: Ein Tag in Rendsburg. Abends am Lagerfeuer beschließen wir, dass wir umkehren und uns in der Ostsee ein Winterlager suchen. Die Reise nach Süden und die Atlantiküberquerung sind auf das nächste Frühjahr verschoben. Es wird Mai, ehe das kleine Boot erneut aufbricht. Hannes, ein redelustiger, quirliger 24-Jähriger, ist von Anfang an dabei und fährt das Boot als Skipper.

Wer noch nie auf einem Schiff war, kann nicht vergleichen. Kennt sich der Skipper aus?

In der langen Wartezeit haben sich für viele Vereinsmitglieder die Perspektiven verschoben. Ein Mädchen ist nun doch mit einem Flugzeug nach Südamerika gereist, andere haben ein Studium begonnen, einer ist Vater geworden. Aus dem Migrobirdo-Projekt ist irgendwie Hannes’ Projekt geworden. Während andere sich abwenden, zieht er es durch. Seine Crew sind junge Erwachsene aus verschiedenen Ländern Europas, die für kurze oder längere Reise-Etappen auf der Taube mitfahren.

Hannes bewegt eine Sicherheitsmittelfirma dazu, Schwimmwesten zu spenden. Auf seine Initiative hin rollt eines Tages ein Lastwagen vor die Taube und lädt 300 Liter Apfelsaft und Säcke mit roten und weißen Bohnen ab. Alles Spenden. Hannes kann andere Menschen von seinen Ideen begeistern.

Die Taube ist ein kleines Segelschiff von acht Metern Länge mit einem wenig erfahrenen Skipper. Aber die kleine Segelyacht hat seit ihrem Ausgangshafen in Kappeln etwa 1800 Seemeilen hinter sich gebracht – durch den englischen Kanal, entlang der französischen Atlantikküste und durch die Biskaya. Dass das Schiff im Januar 2009 in Almería liegt, auf dem Sprung nach Afrika, das ist Hannes’ Verdienst und auch sein Triumph. Es ist der Beweis, dass er das Segeln gelernt hat.

Wer noch nie auf einem Schiff war, kann nicht vergleichen. Ist das Schiff sicher? Kennt sich der Skipper aus? Ohne Zögern steigt Tama in Almería auf die Taube. Wenn sich das Boot auf die Seite legt und in den Wellen rollt, wird ihr sofort übel. Nur im Liegen ist der Zustand zu ertragen und so verbringt sie die Segeltage meist im Schiffsrumpf. Während des Segelns nimmt sie sich manchmal vor, bei der nächsten Gelegenheit auszusteigen. Im Hafen angekommen, sobald das flaue Gefühl im Magen nur noch Erinnerung ist, bleibt Tama dann doch. Wegen Veronika und wegen Alex und den anderen. „Für mich war das etwas absolut Neues, diese Art von Gemeinschaft, auf die anderen vertrauen und sich verlassen“, sagt sie.

Die Taube ist ein Kosmos. Zu neunt auf einem acht Meter langen Boot zu leben, bedeutet, beim Essen um den runden Tisch immer auf andere angewiesen zu sein: „Kann ich mal meinen Pulli haben?“ oder „Ich hätte auch gerne einen Becher“. Es bedeutet, sich mit sechs anderen über die Musik zu einigen, die gespielt wird und es heisst auch, zu zweit in einer Koje zu schlafen, in der man sich kaum umdrehen kann. Manchmal trägt die Hose, die Tama anziehen will schon jemand anderes. Bei Kerzenlicht werden abends Karten geschrieben. Keine Gefühlsregung hat Tama für sich alleine. Sie will zu sich finden, „bei sich bleiben“, wie sie es ausdrückt. Aber das ist schwierig mit so vielen Menschen um sie herum. An Land macht Tama deshalb oft lange Spaziergänge am Strand.

In den Häfen fällt die Taube mit der barfüßigen Besatzung zwischen polierten Yachten und Motorbooten auf. „Ich glaube, dass wir so etwas Verrücktes machten, hat viele an ihre eigenen Träume erinnert“, sagt Tama. Die Leute stellen Fragen und bitten darum, Fotos machen zu dürfen. Auf der Webseite des Vereins Migrobirdo schreibt eine Beobachterin: Ich kann mich noch genau daran erinnern, dass einer von ihnen auf dem Kopf stand und sich entspannte und der andere Geschirr spülte, sie sahen glücklich und frei aus.

Was die Crew an Lebensmitteln braucht, wird oft „containert“, das heißt aus Abfallbehältern von Supermärkten herausgesucht. Die Segler finden sich mutig und verwegen, sie nennen sich scherzhaft „Piraten“. – „Ich konnte uns oft nicht so ganz ernst nehmen“, sagt Tama. „Wir waren doch Wohlstandsabenteurer.“ Jeder konnte davon ausgehen, dass die Familie zu Hause ihn aus einer heiklen Situation rausboxen würde. „Wir hatten ja so eine Art Generalversicherung in unserem Rücken“, sagt Tama. „Das hat mir Sicherheit gegeben.“

Ein Foto zeigt nackte Beine, den Schiffshund Milho, viel Fröhlichkeit

Es ist Nacht. Die Taube fährt unter geblähten Segeln, unter einem riesigen Vollmond. Still. Friedlich. Spanien liegt im Rücken, voraus leuchten die Lichter Afrikas, die Küste von Marokko. Das ist ein Moment, den Tama für sich gespeichert hat. Einer, in dem sich das, was kommen wird, nicht abzeichnet, in dem alles ist, wie es sein soll. Ein Boot auf dem Weg in den sicheren Hafen, ein Abenteuer, das einen glücklichen Ausgang findet.

Marokko ist aufregend und fremd. An der spanischen Küste genoss die Taube eine komfortable Narrenfreiheit. Wenn die kleine Yacht schon im Morgengrauen den Hafen verließ, um keine Liegegebühr zu bezahlen, drückten die Hafenmeister meist ein Auge zu. In Marokko sind die Besatzungsmitglieder der Taube für Einheimische und Hafenbehörden einfach Europäer, die es nicht nötig haben, zu arbeiten. Reiche. In Larache, einer Hafenstadt im Norden von Marokko, besuchen Polizisten mehrmals am Tag das kleine Boot, spähen ins Schiffsinnere und kontrollieren die Pässe. Ein Foto zeigt einen Teil der Besatzung auf einem ausgedienten Schiffsrumpf. Man sieht Mützen und nackte Beine, den Schiffshund Milho, viel Fröhlichkeit.

Tama betrachtet in Innsbruck das Bild und sagt, wie wertvoll ihr jedes einzelne Gesicht geworden sei: Veronika und Alex, die direkt nach ihrer Matura aus Tirol aufgebrochen sind, um zu reisen. Armin, 17 Jahre alt und begeistert von diesem unerhörten Abenteuer, in das er hineingeraten ist, weil sein älterer Bruder bei der Renovierung des Schiffes mitgemacht hat. Hannes, der manchmal darüber nachdenkt, das Schiff auf den Kanaren, spätestens in Südamerika zu verlassen, um eine Tischlerausbildung anzufangen. Sören, der immer vom Reisen geträumt hat und seinen Bauernhof in Sachsen-Anhalt in der Obhut eines Freundes lassen musste, um mit seiner dänischen Freundin Sol aufbrechen zu können. Und dann noch Aris aus Slowenien, die immer ihren eigenen Weg ging.

Tama und Veronika überlegen, in Marokko auszusteigen. Sie wollen zu zweit und zu Fuß mit einem Esel durch Marokko wandern. Doch bis zum nächsten Hafen, entscheiden sie schließlich, werden sie noch zusammen segeln. Alex verlässt das Boot und macht sich auf den Weg ins Atlasgebirge. Er will weiter südlich wieder zur Bootsbesatzung stoßen.

Über die Wetterprognose für die nächsten Tage kann man streiten. Viele Segler bleiben in den Häfen, weil starker Wind angesagt ist. Die marokkanische Atlantikküste, wo sich die Wellen ungebremst am Kontinentalsockel brechen, ist nicht ungefährlich. Der nächste sichere Hafen liegt 100 Seemeilen südlich von Larache, in Mohammedia, nahe der marokkanischen Hauptstadt Rabat. Hannes telefoniert mit Freunden in Deutschland und bespricht die Segelroute. Am Montagabend, dem 19. Januar 2009, verlässt das Schiff gegen 22 Uhr den Hafen.

Tama liegt seekrank in der Koje, ruhige Phasen wechseln sich mit heftigem Wind und Seebewegungen ab. Als sie am frühen Morgen kurz an Deck kommt, sitzt Armin alleine am Ruder, das Meer ist spiegelglatt, er sieht müde und glücklich aus. Ein paar Stunden später nehmen Wind und Welle wieder zu. „Kann es etwas Schöneres geben als das hier?“ hört Tama Armin an Deck gegen den Wind anbrüllen.

* Name geändert

Lesen Sie weiter auf jetzt.de: Der junge Skipper segelt zur Flussmündung von Sebou, in der Nähe des Fischerdorfes von Mehdiya. Das Hafenhandbuch warnt vor der Bucht - doch genau diese Seite fehlt plötzlich.

Foto: dpa