Am seidenen Faden

Die Kunst des Webens erfordert viel Geduld. Unsere Autorin hat sie aufgebracht und eine der ältesten Kulturtechniken erlernt – und dabei überraschend viel über sich, die Menschheit und ihre Geschichte begriffen.

Wo alles zusammenläuft: unsere Autorin an ihrem Webstuhl.

Foto: F. Frangenberg

Die Fäden hängen noch etwas durch, es ist ein braungrauer, unordentlicher Strang, bis Melanie Venes die Rädchen an dem kleinen Musterwebstuhl nachge­zogen hat. Als auch alle Hebel justiert sind, hebt sich eine Reihe straffer Fäden, ein paar Mal saust das Schiffchen zwischen ihnen hin und her – und dann zeigt sich das Muster: Es sind graue, dunkle und braune Rechtecke, kein einfaches Karo, sondern ein bewegter, unregelmäßiger und doch sanft ausbalancierter Rhythmus. Das Vorbild ist Schwarz Weiß Gelb, ein Wand­teppich der Bauhaus-Meisterin Anni Albers von 1926, er ist das ­Motiv auf dem Cover des Katalogs ihrer Retrospektive in der Tate Modern. Und Melanie Venes ist stolz, denn sie hat die Machart entschlüsselt, nicht nur die drei Lagen, aus denen sich das Gewebe zusammensetzt. Sondern auch die Art, in der sich auf der – unsichtbaren – Rückseite Seide und Baumwolle verschlingen, sodass sich das Muster nicht aufbläht, sondern fast so flach und gleichmäßig an der Wand eines Museums sitzt wie ein Ölgemälde.