Der geheimnisvolle Superblogger

Das Blog "Hipster Runoff" ist die Quintessenz aller Indie-Magazine - wer es macht, weiß man aber nicht so genau

In der Rubrik "In den Schuhen von ..." nähert sich jetzt.de Menschen, die gerade wichtig sind, von unten - die Redaktion schaut zuerst auf ihr Fußkleid. Ihre Autorin geht der Frage nach, wer sich hinter einem der beliebtesten Blogs Amerikas verbirgt. Hipster Runoff ist so etwas wie ein Modeblog, nur viel inspirierter. Der geheimnsivolle Macher heißt Carles.

Was sind das für Schuhe, in denen Carles geht?
Ganz mysteriöse. Es ist nicht einmal bekannt, ob es sich um Damenstilettos oder Herrenschuhe handelt. Carles legt viel Wert darauf, anonym zu blieben. Als Gesicht für sein Blog muss ein stark nach American Apparel aussehendes Mädchen herhalten (siehe Fotos). In Chatinterviews (andere gibt er nicht) spielt er den BWL-Absolventen, nur um ein paar Tage später zu behaupten, er sei die Fleischwerdung eines Blogs und daher geschlechtsneutral. Fest steht nur: Diesen geheimniskrämerischen Schuhen hängt eine fünfstellige Twittergefolgschaft und eine sehr große Leserschaft an den Fersen.

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Wie es Carles zum Meinungführer brachte, weiß niemand so genau. Selbst das Gossip-Magazin Gawker, das Carles gerade zum zum Hipster des Jahrzehnts gewählt hat, gelingt es nicht so recht, das Internetphänomen zu erklären: "Die einfachste Definition von Hipster Runoff - es ist Satire. Die komplizierteste Version kann ich mangels Intelligenz nur so artikulieren: Es ist einfach genial." Carles' Seite sei "a blog worth blogging about", ein Metablog über alternative Kultur.

Was sich auf den ersten Blick wie das Onlinetagebuch eines Teenagers liest, der zu viel Zeit im Netz verbringt, entpuppt sich beim zweiten Hinschauen als eine raffinierte Kulturanalyse mit Augenzwinkern. Carles schreibt vermeintlich todernste, 20 000 Zeichen lange Kritiken über die Internetband Animal Collective, Beiträge über die Härten des Veganerdaseins und über Bros, die vorgeben, Musik nur danach zu beurteilen, "wie sie sich anhört", insgeheim aber wöchentlich Musikrankings im Internet nachschlagen, um ihren Geschmack danach zu richten.

Hipster Runoff ist die Quintessenz aller Indiemagazine - gemischt mit Küchensoziologie, Links zu Szenenews und einem infantilen Chatslang. Wer sich zum ersten Mal auf Carles‘ Seite verirrt, muss sich durch eine codierte Sprache durchkämpfen, in der die Hälfte der Buchstaben durch Zahlen ersetzt wird, dunkelhäutige Styler zu Blipstern (Black Hipster) werden und Barack Obama zu ObammyBRO. Hat sich der Gast aber einmal festgelesen, kann es passieren, dass er aus unterschiedlichen Gründen immer wieder zurückkommt. Manchem ist Hipster Runoff eine Szenebibel, machem eine Karikatur auf diese. Um die Witze zu verstehen, muss man allerdings ein bisschen drin sein - womit man wieder selbst zum Teil des Scherzes wird. Ähnlich wie die Blogs Stuff White People Like und Ich Werde Ein Berliner, die die selbsternannte Bohème sezieren, lässt Carles den Leser mit dem Gefühl zurück, näher am Puls der Zeit zu sein, dafür aber auch ein wenig konfuser.

Wo kommen diese Schuhe her?
Aus einem Vorort, mehr gibt Carles nicht preis. Laut eigener Angabe wuchs er in der tiefsten Suburbia auf, studierte etwas, was ihn wenig interessierte, fing dann einen Job an, der ihn langweilte, und lebte ein Leben, das ihn nicht erfüllte. Weswegen er vor zwei Jahren ein Musikblog startete, das durch Hype Machine - einem Generator für MP3-Blogs - bekannt wurde. Enttäuscht von der Konsum-Mentalität seiner Leser, die es nur auf die kostenlosen MP3-Lieder abgesehen hatten, startete Carles ein kritisches Blog. So zumindest die Version des Schöpfers. Aber die muss natürlich nicht stimmen. Den Anteil der Ironie in Carles' Aussagen kann man nie einschätzen. Darüber, wie man die Botschaften des Blogmessias zu deuten hat, gibt es viele Seiten im Internet. Vielleicht steht aber auch Carles selbst dahinter. Wo gehen diese Schuhe hin?
Vermutlich von der Szene in den Mainstream. Vor kurzem hat die New York Times die Seite als "ein Blog, das die Bohème mit urkomischer Präzision auf das Korn nimmt" gelobt. Inspiriert von Carles' Genreshirt, auf dem 200 ausgedachte und echte Musikrichtungen gelistet sind, hat die Times einen Artikel darüber veröffentlicht, dass es mehr Rocksubgenres gibt, als Bands. Selbstverständlich hat sich Carles über den Text lustig gemacht - und ihn trotzdem auf seiner Seite verlinkt.