»Nein, ich muss arbeiten«, sagt Bettina Meeh auf die Frage, ob sie am Prozess gegen ihren Ex-Chef Anton Schlecker teilnehmen werde. Es ist vielleicht die schönste Antwort, die eine Schleckerfrau geben kann.
Denn damals 2012, im Jahr der Insolvenz, wurden 27.000 Menschen arbeitslos. Vornehmlich Frauen, viele ungelernt, oder zumindest seit Jahrzehnten nicht weitergebildet. Das Durchschnittsalter der Verkäuferinnen betrug 53 Jahre, viele waren unflexibel, der Job bei Schlecker, vor Ort, ließ sich gut mit Berufstätigkeit des Mannes und den Kindern vereinbaren, alles andere nicht. Wirtschaftsminister Philipp Rösler von der FDP erklärte damals, die Frauen sollten sich ihre Anschlussverwendung selber suchen. Die meisten fanden keine. Ihr Image war schlecht. Jahrzehnte hatten sie unter schlechten Bedingungen gearbeitet, waren überwacht worden, gegängelt und manche bekamen nicht mal ein Telefon in ihre Filialen, weil Anton Schlecker befürchtete, sie würden sonst zuviel schwatzen. Eine Drogistin verblutete nach einem Überfall, weil sie keine Hilfe rufen konnte. All diese Umstände wurden auch den Verkäuferinnen angelastet, sie hatten sich das ja schließlich gefallen lassen. Als Anton Schlecker am 23. Januar 2012 in Ulm Insolvenz anmeldet, sitzen sie mit im Boot.
Ehemalige Schleckerfrauen sagen oft, es habe sich mit den Drogerien verhalten, wie mit der Titanic. Keiner konnte so recht glauben, dass eine Kette mit 7.500 Filialen, Tochterfirmen mit prominenten Namen wie »Ihr Platz« und zahlreichen Auslandsgesellschaften wirklich zahlungsunfähig wird. Alle dachten das Imperium des Anton Schlecker sei zu groß um unterzugehen. Und dann ging es doch unter und verhielt sich dabei auch ein bisschen wie die Titanic. Es riss ganz schön viele mit.
Während die Frauen Arbeit suchten oder selber Drogerien gründeten (hier unsere Reportage von 2013), sich Anton Schlecker mit seiner Frau in seinem Anwesen in Ehingen verschanzte und der Insolvenzverwalter seine Arbeit tat, ermittelte die Stuttgarter Staatsanwaltschaft. Der Vorwurf der Insolvenzverschleppung stand im Raum. Wann genau hatte Anton Schlecker von seiner drohenden Zahlungsunfähigkeit gewusst? Inzwischen ist sich die Staatsanwaltschaft sicher: Weit früher, als er sie zugegeben hat.
Am kommenden Montag beginnt am Landgericht Stuttgart der Schlecker-Prozess. Oder wie es in der Anklageerhebung heißt: die Hauptverhandlung gegen sechs Angeklagte im Zusammenhang mit der Insolvenz einer Drogeriemarkt-Kette. Anton Schlecker und seinen beiden Kindern Meike und Lars Schlecker wird vorgeworfen in 36 Fällen Vermögenswerte beiseite geschafft zu haben. Nutznießerin immer die Privatperson Christa Schlecker, die Ehefrau und Mutter. Auch sie ist angeklagt, wegen Beihilfe zum Bankrott.
Hat Schlecker also Geld beiseite geschafft, weil er schon lange vor 2012 wusste, dass die Anton Schlecker e.K., – e.k. steht für eingetragener Kaufmann – auf eine Zahlungsunfähigkeit zusteuert und nicht bloß ein bisschen strauchelt? Das ist der Verdacht der Stuttgarter Staatsanwaltschaft, die ihn unter anderem wegen Bankrotts und besonders schweren Fall von Bankrotts anklagt.
Indizien dafür gibt es. Im Juni 2009 etwa überschreibt Anton Schlecker seinen Grundbesitz seiner Frau. Dabei geht es um Gebäude- und Freiflächen, die so groß sind, dass sie im Grundbuch der Stadt unter drei verschiedenen Straßennamen verzeichnet sind, acht verschiedene Flurstücke. Am 24. Juni 2009 werden die Änderungen bewilligt und das Eigentum, das sonst Teil der Insolvenzmasse geworden wäre, geht an Christa Schlecker über. Anton Schlecker behält den Nießbrauch, darf also das nun fremde Eigentum weiter nutzen. Auch Grundstücksüberschreibungen werden vor Gericht Thema sein, Sachverständige dazu sind geladen. Außerdem erhielt Christa Schlecker ein Monatsgehalt von 60.000, was der wirtschaftlichen Situation nicht mehr angemessen war. Zudem begannen 2009 die »verdächtigen unentgeltlichen Vermögensübertragungen auf Familienangehörige«, wie es 2012 in einem Durchsuchungsbeschluss der Staatsanwaltschaft Stuttgart hieß. Das alles wird im Prozess Thema sein.
Schleckerfrauen sind nicht als Zeuginnen geladen. Dabei könnten auch die von Indizien der drohenden Pleite berichten. Bettina Meeh etwa, die Frau, die den Prozess nicht vor Ort verfolgen kann, weil sie arbeiten muss, war zwanzig Jahre bei Schlecker. Sie sagt, sie hege keinen Groll, aber davon, dass Schlecker sich zuletzt vor allem um sein Auskommen sorgte, ist sie überzeugt.
Ebenso Marina Juhrich. Die heute 63-Jährige ist ehemalige Schleckerfrau und hat später eine eigene Drogerie gegründet. Sie sagt, erste Anzeichen habe es schon 2008 gegeben. Plötzlich seien befristete Verträge nicht mehr verlängert worden. Einzelne Filialen wurden dichtgemacht, die Kolleginnen in neue XL-Filialen versetzt. Im Zuge dessen bekamen sie immer neue Verträge, aber plötzlich ohne Tarifbindung. Ab Sommer 2010 wurden dann Überstunden nicht mehr anstandslos bezahlt. Ein Jahr später, im Sommer 2011 wurde das Problem auch nach außen hin sichtbar: viele Regale blieben leer. Statt 15 Sorten Haarspray, gab es nur noch acht. Zu der Zeit fingen auch die Warnungen an: Der Fahrer einer Spedition habe sie damals beiseite genommen: »Such Dir einen neuen Job, Schlecker zahlt sehr schleppend und irgendwann gar nicht mehr«, sagte er. Schon im Oktober 2011, ein halbes Jahr bevor Anton Schlecker Insolvenz beantragt hat, hat Juhrich Bewerbungen verschickt. Wenn sie es gemerkt hat, dann muss es doch Anton Schlecker schon lange klar gewesen sein, oder?, fragte sich Juhrich immer. Dass Anton Schlecker ihren und viele andere Arbeitsplätze hätte sichern können, wenn er früher reagiert hätte, das ist seitdem ihr Verdacht.
Anton Schlecker, heute 72, Sohn eines Metzgermeisters, lernte zunächst Metzger, legte mit 21 die Meisterprüfung ab. Er baute das elterliche Unternehmen aus, eröffnete Warenhäuser und als 1974 die Preisbindung für Drogerieartikel fiel, gründete er selbst. Zu Hochzeiten besaß Anton Schlecker 10.000 Filialen in 7 Ländern. Er galt als sparsam, zielstrebig und gewissenhaft. Keiner, der sein Lebenswerk verprasst oder es leichtfertig aufs Spiel setzt, sondern einer, der die Kontrolle verloren hat – und nicht bereit war, sie abzugeben oder auch nur zu teilen.
Im Sommer 2009, zur etwa gleichen Zeit, als Schlecker seine Grundstücke Ehefrau Christa Schlecker überträgt, verpflichtet er auch einen externen Unternehmensberater: Prof. Dr. Norbert Wieselhuber aus München. Bis Juli 2010 kommt der regelmäßig nach Ehingen in den Glasturm, den Anton Schlecker sich als Firmenzentrale gebaut hat. Im sechsten Stock, in Schleckers Büro, besprechen sie welche Firmenumbauten nötig sind: Sie wählen Filialen aus, die nicht rentabel sind und die zu schließen wären und bauen ein Modell für einen luftigeren, schöneren Schleckerladen. Die übrig gebliebenen Läden müssten umgebaut werden.
Am Ende wird Schlecker die Maßnahmen, die der Berater empfiehlt nicht umsetzen. Zu rigoros. Zu einschneidend. Dass es durchaus ernst sei, habe er Schlecker immer wieder gesagt, erklärt Wieselhuber. Aber ausrichten konnte er nichts.
Die einzige Veränderung, die auf Wieselhubers Kappe geht: Bei den Meetings mit Anton und Christa Schlecker wurde irgendwann nicht mehr nur Leitungswasser gereicht, sondern auch welches mit Sprudel, später sogar Kaffee in Thermoskannen. Wieselhuber lacht, wenn er von der Sparsamkeit des Unternehmers Schlecker erzählt. In seinem Büro in der Münchner Nymphenburgerstraße stehen gleich zwei Sorten Wasser auf dem Tisch, Kaffee und Kekse.
Ähnliches berichten ehemalige Sekretärinnen oder gehobene Konzernangestellte. Von »beratungsresistent« bis »größenwahnsinnig« reichen die Beschreibungen. Er habe ein Arbeitsklima und eine -Struktur um sich herum geschaffen, in der das Widersprechen nicht möglich gewesen sei.
Dass das Ende seiner Drogeriemarktkette für ihn ebenfalls dramatisch war, ist vielen ehemaligen Schleckerfrauen kein entscheidendes Argument. Sie sehen sich mit der Anklageerhebung bestätigt. Schlecker hat zuerst sich selbst abgesichert, und nicht ihren Arbeitsplatz. Viele von ihnen haben noch die letzten Mitarbeiterbroschüren von Schlecker zu Hause liegen. Als Erinnerung. Im Heft vom März 2012 erklärten Maike und Lars Schlecker noch wortreich, dass schlicht kein Vermögen mehr da sei. »Sie können uns wirklich glauben«, wird Meike Schlecker da zitiert, »Hätten wir entsprechende Mittel gehabt, wäre es nie zu der Insolvenz gekommen.«
Am Montag will die Staatsanwaltschaft unter anderem diese Aussage widerlegen. In der Facebookgruppe »Wir waren Schlecker«, in der sich ehemalige Schleckerfrauen und -männer nach der Insolvenz verbunden haben, hat sich eine Gruppe formiert, die gemeinsam zum Prozessbeginn fahren will – um dabei zuzusehen.
Fotos: Tanja Kernweiss (2), dpa