SZ-Magazin: Frau Wolf, als Psychotherapeutin helfen Sie Menschen dabei, zu verzeihen: wenn sie betrogen oder missbraucht wurden, wenn sie einen geliebten Menschen durch Suizid verloren haben oder durch einen Unfall, an dem eine andere Person schuld war. Wie schafft man es, so schwere Verletzungen zu verzeihen?
Doris Wolf: Sagen wir es so: Es gibt nichts, das man nicht verzeihen kann. Sogar Mord am eigenen Kind kann verziehen werden – wenn sich die verletzte Person dazu entschieden hat.
Es geht also nicht darum, wie schlimm es war, was mir angetan wurde, sondern ob ich bereit bin zu verzeihen?
Genau. Es hängt von jedem einzelnen Menschen ab, ob und was er oder sie verzeiht. Oder eben nicht. Ich erlebe Patienten, die ihrem Partner einen Seitensprung verzeihen, weil sie es möchten. Weil sie diesen Menschen in ihrem Leben haben wollen, weil sie die Beziehung wollen. Und dann gibt es solche, die nicht bereit sind zu verzeihen, dass sie von einer Freundin versetzt wurden oder dass der Chef bei der Beförderung einem Kollegen den Vorzug gab. Verzeihen ist das Ergebnis eines langen, bewussten Prozesses, in den viele persönliche Gedanken und Gefühle einfließen. Und es ist Einstellungssache.