SZ-Magazin: »Wir sind letztlich Affen«, sagte der Verhaltensforscher Frans de Waal über Menschen. Doch einen Unterschied sah er, so wie andere Forscherinnen und Forscher auch: Nur der Mensch zeigt Gefühle der Scham in seinem Paarungsverhalten, nur der Mensch kennt eine Intimsphäre und körperliche Tabuzonen. Ist Scham also etwas zutiefst Menschliches?
Elia Bragagna: Scham ist allen Menschen, allen Gesellschaften, allen Kulturen zu eigen. Scham hat zum einen etwas mit Grenzen zu tun: Sie zeigt etwas Intimes an, bei dem ich erkenne, dass meine Grenzen überschritten werden. Das muss gar nicht negativ sein, weil ich dadurch merke: Ich will mich zurückziehen, das hier gerade, das ist nur meins. Scham ist aber auch vorgegeben, von der Gesellschaft, von Beziehungen, die uns diktieren wollen, wo diese Grenzen zu verlaufen haben – und dadurch entstehen Konflikte. Weil das, was ich selbst als schützenswert empfinde, noch lange nicht für die Gesellschaft schützenswert ist. Weil vielleicht eine Mode oder ein Trend vorschreibt, was und wie ich etwas von meinem Körper zeigen soll, was ich eigentlich nicht zeigen möchte. Und weil ich, wenn ich der gesellschaftlichen Norm nicht entspreche, von der Gesellschaft oft beschämt werde: Du passt nicht zu uns, du gehörst nicht zu uns. Dabei kann es zum Beispiel um Körperbehaarung von Frauen gehen – in alten Filmen mit Sophia Loren galten behaarte Achseln noch als sexy, heute ist das ein Tabu, genauso wie Beinhaare Schamhaare, die beim Bikini hervorschauen. Oder auch Klischees, wie eine Frau, die ernstgenommen werden will, sich kleiden oder schminken sollte, oder so etwas wie: »Richtige Männer tragen keine Röcke.«
»Man muss sich klarmachen, dass man nicht für den perfekten Körper geliebt wird«
Warum schämen wir uns oft sogar in den intimsten Beziehungen für unseren Körper? Die Sexualtherapeutin Elia Bragagna erklärt, welchen Sinn diese zutiefst menschliche Eigenschaft hat, wie wir mit uns selbst ins Reine kommen können – und warum das für die Liebe so wichtig ist.