»Von der Harmonie her ist das Volksmusik«

Ob Fernseher, Handy oder Staubsauger-Roboter: In unserem Alltag tönen ständig Geräte. Aber was genau hören wir da? Drei Musik-Profis analysieren die Erkennungsmelodien von Netflix, Apple, Windows und Co

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Die Jury

Chilly Gonzales ist ein kanadischer Pianist, Entertainer und Hansdampf in allen Gassen, der seit vielen Jahren in Deutschland lebt und arbeitet. Bürgerlich heißt er Jason Charles Beck. Mitte September ist sein neues Album Gonzo erschienen.

Alexandra Gruber ist Soloklarinettistin und Orchestervorstand der Münchner Philharmoniker. Sie tritt mit den Philharmonikern und auch solo oder in kleinen Besetzungen weltweit auf.

Bazzazian ist Hip-Hop-Produzent in Köln, bürgerlich heißt er Benjamin Bazzazian. Er hat mehrere Alben des Rappers Haftbefehl produziert, außerdem Stücke für Samy Deluxe, Kontra K undGentleman. Gerade ist sein erstes Soloalbum 100 Angst erschienen.

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Die Alltagsgeräusche

Alexandra Gruber: »Uff, prägende Konzertsaal-Erfahrung! Das war eine Zeit lang der Klingelton, der am häufigsten mitten im Konzert irgendwo losging. Ich verbinde damit verstörte Konzertbesucher, die nervös in ihren Taschen kramen.« 
Chilly Gonzales: »Ein Klingelton in Dorisch-Moll, das ist ein wenig offener, optimistischer als reines Moll. Die Frequenzen sind gut gewählt, man hört den Ton sogar, wenn das iPhone tief in der Tasche steckt – zugleich hat aber der Xylophon-Klang etwas Versöhnliches, gerade exotisch genug, dass er auch ein bisschen an Palmen und Entspannung erinnert.« 
Bazzazian: »Auf jeden Fall einer von den besseren iPhone-Klingeltönen. Einfach und klar und gut produziert. Den könnte man sogar sampeln und für einen Hip-Hop-Track verwenden.«

Bazzazian: »Den Klang finde ich interessant. Sehr mollig, melancholisch, das passt überhaupt nicht zu so einem modernen Staubsauger. Aber gut, da kommt ja auch noch die Bitte-aufladen-Meldung. Vielleicht passt der traurige Sound doch – der arme Staubsauger hat halt nicht mehr so viel Energie.« 
Alexandra Gruber: »Die Marke musste ich erst mal googeln, ich staubsauge noch selbst. Lustigerweise der Einzige von diesen Klängen, der in Moll gehalten ist. Wahrscheinlich, weil Saugen eine wahnsinnig langweilige Angelegenheit ist. Interessant wäre, ob er wohl mit einem Dur-Akkord reagiert, wenn er fertig aufgeladen ist.«

Bazzazian: »Hat im Gegensatz zu den anderen Sounds ein bisschen mehr Hollywood. Ich muss an Fluch der Karibik denken, Blockbuster, großes Kino. Apple setzt da im Vergleich immer auf dezentere Sounds.«  
Chilly Gonzales: »Ist das der, den Brian Eno komponiert hat? Ach so, nein, das war der von Windows 95. Der war noch fantasievoller, eine richtige Miniatur. Schade, dass sie ihn nicht auch den nächsten haben komponieren lassen. Ich finde es immer gut, wenn gerade auch in Mainstream-Zusammenhängen Künstler zum Zug kommen, die eigentlich Avantgarde sind – das macht die Alltagskultur für uns alle reicher und besser.«

Alexandra Gruber: »Ein bisschen Science-Fiction, hüpfende Wassertropfen. Von der Harmonie her ist das Volksmusik, Grundakkord und Dominante. Eigentlich sollte sich der zweite Akkord dann wieder zum ersten auflösen, tut er aber nicht. Man könnte sagen, so bleibt die Einladung zum Gespräch offen, die Auflösung kommt dann eben, wenn man das Gespräch annimmt.« 
Chilly Gonzales: »Ich muss zugeben, ich würde das nicht mal als Musik interpretieren. Mag sein, zwei Akkorde, aber das Sounddesign ist so dünn und billig, dass es für mich nur klingt wie ein Warnsignal. Würde ich in die Kategorie ›funktionale Kühlschrankgeräusche‹ einordnen.« 
Bazzazian: »Für mich ist das vor allem Pandemie-Erinnerung. Ich habe zwei Kids, der Unterricht über Teams … schwierige Zeiten. Der Sound an sich ist gar nicht negativ, aber nun mal überfrachtet mit Erinnerungen.«

Alexandra Gruber: »Eine einfache Dreiklangrückung von F- nach G-Dur mit einem leichten Crescendo. Ganz simpel, vermittelt positive Spannung. Harmonisch offen, weil die Tonart wechselt, der erste Akkord ist sozusagen der Opener, der zweite Akkord das Finale.«
Chilly Gonzales: »Das ist einer der besten Sounds, denn die westliche Musiktradition arbeitet immer schon mit der Idee von Spannung und Auflösung. Es braucht einen Bogen. Und der hier erzählt schon fast eine kleine Geschichte. Erst die Erwartung, ein langer Akkord, dann ein perkussiver Schlag, im Grunde fasst das den ganzen Augenblick zusammen: Man sitzt vor dem Bildschirm, gespannt auf den Film, und bäm, dann geht er los.«

Alexandra Gruber: »Der Klassiker! Arpeggierte Dreiklänge, sehr einfach, sehr eingängig. Das klingt durch den piepsigen Elektro-Ton natürlich mega-artifiziell, so richtig computermäßig. Man könnte die Melodie für ein bisschen asiatisch halten, aber das liegt eher an der Klangfarbe, die erinnert halt an billige Videospiele.« 
Chilly Gonzales: »Fast ein Kinderlied. Der Nokia-Ton ist oft von Musikern aufgegriffen worden, in Gitarren-Solos und so. Im Grunde nur ein Gag, aber vielleicht auch mit einer tieferen Wahrheit: Wenn wir darüber lachen, zeigt das möglicherweise unsere Erleichterung darüber, dass die Konsumwelt uns doch noch nicht komplett in der Hand hat. Seht, wir lassen uns zwar von unseren Smartphones unterjochen, aber wir können sie auch noch ironisieren, zumindest manchmal.«

Bazzazian: »Meine Frau hat so einen gekauft. Komischerweise stresst mich dieser Sound immer. Er vermittelt mir das gleiche Gefühl wie der Nokia-Klingelton, los, los, los, noch dazu wiederholt er sich ständig. Am Schluss kommt so ein Hall, da soll ein Raum erzeugt werden. Eigenartig. Wer mit Effekten wie Hall arbeitet, will eigentlich oft irgendetwas kaschieren.«
Alexandra Gruber: »Irgendwas kaschieren? Wie so ein übertriebenes Vibrato bei den Geigern? Weiß ich nicht. Das ist doch ein ganz schöner, freundlicher A-Dur-Dreiklang. Gut hörbar im ganzen Haus, damit klar ist, jetzt bitte mal alle an den Tisch.«
Chilly Gonzales: »Das finde ich einen guten Klang, er erzeugt eine Stimmung. Jingle-Komposition auf gutem Niveau, das Signal fordert Aufmerksamkeit, aber es nervt nicht wie ein Klingelton. Es geht ja auch um etwas Schönes: Das Essen ist fertig.«

Bazzazian: »Der hat für mich irgendwie was Positives. Klingt wie: Hier startet der Tag. Der Rechner fährt hoch, los geht’s. Der Akkord klingt strahlend. Starkes Dur, die Kollegen können das sicher genauer benennen.« 
Alexandra Gruber:
»Ein kräftiger Akkord, der mich erst mal irritiert hat. Den musste ich im Gegensatz zu den anderen kurz am Klavier prüfen – es stellte sich heraus, der ist weder C-Dur noch Cis-Dur, der hängt genau zwischendrin. Er schwebt auch in einem merkwürdig unklaren tonalen Raum.«
Chilly Gonzales: »Ein großar­ti­ger, viel kopierter Sound, ich glaube, auch bei Netflix haben sie sich an dem orientiert. Eigentlich statisch, aber dann doch wieder spannend, weil der Akkord zwischen den Tonarten hängt. Frau Gruber sagt C / Cis, ich würde eher sagen F / Fis. Das C würde ich als Quinte des Akkords interpretieren. Vielleicht haben wir beide recht.«

Alexandra Gruber: »Das finde ich den spannendsten Klang hier. Kaum Melodie dabei, ein perkussiver Schlag am Anfang, dann kommt der Akkord im Crescendo heraus. Das kennt man aus der klassischen Musik: Wenn etwas mit dem Paukenschlag beginnt, soll man aufmerksam sein. Das Beethoven-Violinkonzert fängt auch mit Pauke an, allerdings ganz leise. Aber das ist jetzt sowieso ein bisschen weit hergeholt, ich möchte nicht Beethoven mit Netflix in einem Atemzug nennen.« 
Bazzazian:
»Den finde ich total stimmig, macht keine große Welle, setzt einfach nur den Moment. Bei dem Akkord kann man gar nicht so genau sagen, Dur, Moll … ich glaube, der hat keine Terz, ist ganz offen. Gute Idee.« 
Chilly Gonzales:
»Hm. Keine Spannung, keine Auflösung. Statisch. Ein minimalistisches Gemälde, wenn man so will – aber da wäre mir dann ein Mark Rothko lieber, mit Kontrasten und verschiedenen Farben und Spannung.«

Notation: Leonard Winter