Die Ruhe nach dem Sturm

Altkanzler Schröder macht sich jetzt keinen Stress mehr. In seinem neuen Büro regiert die Sanftmütigkeit. Wie schön. Ein Besuch im Austragshäusl der Berliner Republik.

Eskimos setzten ihre Alten einst auf eine Eisscholle, Indianer führten sie tief in den Wald. In Deutschland werden Kanzler, die nicht mehr gebraucht werden, Unter den Linden gelagert, außer Hörweite von Regierungssitz und Reichstag. Helmut Kohl residiert auf der linken Seite des Berliner Prachtboulevards, dicht am »Adlon«. Gerhard Schröder hat es auf die andere Straßenseite verschlagen, Hausnummer 50, ein schmuckloses Abgeordneten-gebäude, weiter weg vom Brandenburger Tor, aber gegenüber der russischen Botschaft. Das »Café Einstein«, Laufsteg der Bundespolitik, liegt gleich nebenan. Wann immer ein neuer SPD-Parteichef erkoren ist, schlendert Gerhard Schröder hinüber, um mit ihm wie zufällig für ein Foto bereitzusitzen. Der Bundeskanzler a. D. hat sein Büro im vierten Stock, seine Nachbarn sind der Remscheider Abgeordnete Jürgen Kucharczyk (ehem. Postgewerkschaft, jetzt Ver.di, Betriebsrat, SPD-Unterbezirksvorsitzender) und Willi Brase aus Siegen (Gewerkschaftssekretär, Sozialpädagoge, DGB, ÖTV, IHK, SPD-Unterbezirksvorsitzender Siegen-Wittgenstein). Besonders Willi Brase war durch Opposition zur Agenda 2010 aufgefallen. Man kann sich ausmalen, wie die Fraktionsverwaltung feixend die benachbarten Büros an Brase, Kucharczyk und Schröder verteilte. Es ist duster hier, dunkles Holz, dunkler Teppich, Sparbeleuchtung. An der Wand hängen keine Stresemänner, sondern Feuerlöscher, Fluchtpläne und eine große Bahnhofsuhr. Sie zählt normale Stunden, keine historischen mehr. Am Ende des Flures hat Otto Schily sein Zimmer. Der Altkanzler und sein ehemaliger Innenminister können gut miteinander. Es gibt sogar noch die alte Skatrunde mit dem Stahlunternehmer Jürgen Großmann, dem Produzenten Hanno Huth und mit Markus Lüpertz, der zwar lausig spielt, dafür aber unterhaltsam ist. Im Stockwerk drüber liegt das Zimmer von Klaus Uwe Benneter, dessen ehemaliger Job bei der SPD alsbald Grundlage für eine 500-Euro-Frage bei Jauch sein wird. Antwort: Generalsekretär. In der Nähe hat Jürgen Trittin sein Büro. Und Joschka Fischer. Der soll angeblich seit Jahren erstmals wieder »Bitte« und »Danke« sagen. Das ist aber nur ein Gerücht, der Kontakt zum Büro Schröder ist nicht mehr so eng. Fischer wird ohnehin bald Professor in Princeton, seine alte Freundin Madeleine Albright hat dort wohl ein gutes Wort für ihn eingelegt. Quälend ruhig ist es auf Schröders Flur, so unwirklich normal, als sei alles nur ein Traum gewesen. Fünf der alten Mitarbeiter sitzen hier, wie durch eine Zeitmaschine geschleudert in eine Welt der Stille, die weder Krisen kennt noch Adrenalin. Marianne Duden ist da, noch immer so herrlich ausgeglichen wie schon im Vorzimmer von Helmut Schmidt; Albrecht Funk, Schröders Mann für Worte und Fakten, und Büroleiterin Sigrid Krampitz, die den Ministerpräsidenten, Kanzler und Altkanzler seit jeher behutsam durchs Leben steuert. Ihnen war klar, dass sie mit dem Umzug aus dem Alles ins Nichts katapultiert werden würden. Anfangs hatten sie ein bisschen Angst, bis auf Frau Duden, die kannte das schon. Aber nun machen sie den Eindruck, als sei es weit weniger schlimm als befürchtet. Na gut, man vermisst den Regierungsapparat, der auf Knopfdruck recherchierte, übersetzte und manchmal sogar gehorchte. Aber es geht auch ohne.

Wer im Kanzleramt war, als der Irakkrieg tobte oder Hartz IV, dem kommt jeder andere Arbeitsplatz vor wie eine Frühlingswiese. Abenteuer Wirklichkeit. Fasziniert hat Schröders Stab entdeckt, dass ein Arbeitstag kürzer sein kann als 16 Stunden. Manchmal bleiben sogar die Zeitungen ungelesen, außer Bild natürlich. Damals in der Machtzentrale haben sie alles verschlungen, vor Sonnenaufgang. Und sich dann die Leitartikel von FAZ, SZ und Berliner Zeitung vorgelesen. Veröffentlichte Meinung war der Ersatz für die Realität. Alles vergessen. Keine Spur mehr von Gezänk und gelegentlichem Hass, der Schröder entgegenschlug, keine ängstliche, stolze, verspannte Verteidigungshaltung mehr, die er und seine Leute zuletzt reflexartig einnahmen. Alles ist sanft hier. Kontakte nach drüben, in das große würfelförmige Gebäude, das keinen Kilometer Luftlinie entfernt liegt, gibt es nach der Übergabe an Merkels Büroleiterin Brigitte Baumann kaum. Zwar hat Schröder seiner Nachfolgerin gesagt, er stehe jederzeit bereit für Fragen. Aber Aktivkanzler bitten Altkanzler nicht um Rat. Schröder hat Kohl auch nicht angerufen, der nicht Schmidt und Schmidt Brandt schon gar nicht. Obwohl alle Vorgänger gern angerufen worden wären. Nur einmal wurde Schröder um Hilfe ersucht. Die Familie der im Irak entführten Geisel Susanne Osthoff hatte darum gebeten, dass der international als USA-Skeptiker bekannte Schröder eine Fernsehbotschaft an die Entführer richten möge. Über Frau Merkel sagt Schröder nichts, allenfalls Charmantes, so wie neulich in der Berner Zeitung, wo er ihre Fußballkenntnisse gelobt hat. Dabei dürfte er es kaum verschmerzt haben, dass er diese Fußball-WM nicht eröffnen durfte. Schon früh war in der Merkelmania untergegangen, dass es eigentlich Schröders WM ist, die er mit Schily und Beckenbauer geholt hatte und die ihm die Wiederwahl sichern sollte. Als er am Handy erfuhr, dass Deutschland das Turnier bekommt, hatte seine Amtszeit gerade begonnen. Er saß in der strahlenden Sonne auf dem Gendarmenmarkt beim Italiener im Kreis von wohlwollenden Spiegel-Leuten, trank Weißwein zum Fisch, freute sich an der Macht, aufs Eröffnungsspiel und den schönen großen Bahnhof vorm Kanzleramt. Geschichte. Stattdessen Endstation Unter den Linden. Schröders Büroräume sind sachlich eingerichtet, noch gar nicht richtig eingelebt, viel kühler als das Wohnzimmermuseum von Helmut Kohl. Der hat seine Wände voll gehängt mit Fotos, Urkunden, Erinnerungen und Sinnsprüchen über Elefanten. Gäste empfängt er in Strickjacke in einer Sitzecke auf einem Perserteppich. Es ist so, als fühle sich Schröder nicht sehr heimisch auf seinem Flur. Er empfängt überhaupt nicht. Er geht lieber auf Auslandsreisen, wo er so behandelt wird, wie er findet, dass man einen Altkanzler behandeln sollte. Schröder ist gern in der Schweiz, bei einem seiner neuen Arbeitgeber, dem Verleger Ringier, der sich den Altkanzler als Wegbereiter auf den Fluren der Macht angestellt hat. Erst neulich war man gemeinsam in Vietnam und China, wo es weder Pressefreiheit noch Privateigentum gibt – verlegerisch komplexes Terrain. »Als Unternehmer hätte ich zehnmal dahin fliegen müssen, um all diese Termine zu bekommen«, sagt Michael Ringier. Mit Schröder ging alles wie von allein: Schon länger will Ringier in Schanghai eine Frauenzeitschrift herausbringen. Doch das Genehmigungsverfahren stockt seit Monaten. Jetzt hilft Schröder. Ähnlich segensreich soll der Kanzler a. D. in Osteuropa und in der Türkei wirken. Ehrensache, dass das Kanzler-Buch als Vorabdruck in Blättern des Ringier-Verlags erscheint, zum Beispiel in der Politologen-Bunten Cicero. Schröder lasse zwar niemanden ins Manuskript gucken, das der ehemalige Regierungssprecher Uwe Karsten Heye erstellt. Aber Verleger Ringier ahnt: »Es wird bestimmt toll.« Im Oktober erscheint das Werk, keine Autobiografie, sondern eine Aufarbeitung von sieben Jahren Rot-Grün. Die Arbeit daran erinnert an die Atmosphäre in der Staatskanzlei zu Hannover vor zehn Jahren: Eine fröhliche Sigrid Krampitz koordiniert Schröders Termine und Heye formuliert, sofern es seine Tätigkeit als Chefredakteur des Vorwärts zulässt, etwas brummelig dessen Gedanken. Nur dass die Gefährten jetzt keine Pläne für die Zukunft mehr schmieden, sondern Erklärungen für die Vergangenheit abgeben.

Bücherschreiben ist nicht die Lieblings-beschäftigung Schröders. Mal diktiert er, mal erzählt er, bisweilen schreibt er auch. Diese Vorher-Nachher-Betrachtung seiner Amtszeit ist ihm eine Herzensangelegenheit. Er will noch mal in aller Ruhe erklären, warum er wann wie entschieden hat: sich selbst, den Medien, Historikern, vor allem aber der Partei. Die SPD soll erfahren, dass sie ihn genauso mies behandelt hat wie seine sozialdemokratischen Vorgänger im Kanzleramt. In Deutschland tritt Schröder so gut wie nie auf, höchstens als Privatmann. Unter den Linden schlendert er bisweilen und genießt es, dass die Leute ihn voller Ehrfurcht um ein Autogramm bitten. Mehr Öffentlichkeit will er nicht, nicht vor dem Herbst, aus Gründen des Marketings. Die Spannung soll steigen. Gern wäre er das Oldtimer-Rennen Mille Miglia in Italien mitgefahren, zugesagt hatte er schon. Aber dann hat er sich doch anders entschieden, als er sich ausmalte, wie die Unterschriften zu den Fotos gelautet hätten. Heide Simonis hat gezeigt, wie es endet, wenn sich ehemalige Regierungschefs im Entertainment-Gewerbe versuchen. Schröders neue Welt, das sind die Chef-etagen und Salons, dort, wo die schweren Teppiche die Gespräche schlucken und nur genehmigte Kameras surren. Nahost, Afrika, Türkei – überall hält er gut bezahlte Vorträge und lässt sich bestaunen als jenen tapferen Mann, der ein bisschen Weltgeschichte schrieb, weil er es wagte, dem amerikani-schen Präsidenten die Stirn zu bieten. In Moskau, Zürich und den anderen Geldspeichern dieser Welt holt Schröder nun nach, was er sein Politikerleben lang nicht durfte. Geld verdienen, das scheint ihm zu gefallen. Dafür lässt er sich auch gern mal kritisieren. Wenn er zum Beispiel den Vorsitz im Nah- und Mittelostverein übernimmt, dann geht es weniger um Politik, sondern vor allem um neue Vortragskunden. Ölscheichs und andere Potentaten sind dankbar zahlende Einlader. Mit Ringier, Gasprom, seinen Vorträgen und dem Buch-Vorschuss kommt er schätzungsweise auf 50 000 Euro die Woche, also rund 2,5 Millionen im Jahr. Gerade hat sich Schröder zwei Ferienwohnungen auf Borkum gekauft, jeweils angeblich zu gut 200 000 Euro. Für sein neues Leben hat er ziemlich leichtfertig den weichen Wert der Würde verspielt. Andererseits: Wenn man überlegt, dass Helmut Kohl seine Amtszeit mit einer Spendenaffäre beendete, Jacques Chirac ebenso wenig gut dasteht wie Tony Blair oder George Bush, dann gingen sowohl Schröders Kanzlerschaft als auch sein Abgang vergleichsweise sauber vonstatten. Wie wird dieser Schröder wohl eines Tages im Geschichtsbuch stehen? Als Jan Ullrich der deutschen Politik, das Riesentalent, das zu wenig aus sich machte? Als derjenige, der den undankbaren Job erledigte, nach 16 bleiernen Jahren Kohl die notwendigen Reformen anzuschieben? Als Kanzler, der den Krieg verweigerte? Oder als Glückloser zwischen zwei Unions-Kanzlerschaften? Es wird eine Weile dauern, bis man halbwegs normal über Schröder denkt und spricht und es überhaupt wagt, ihn einzuordnen. Im Moment schwebt er in einer Zwischenzeit, in der er nicht mehr Kanzler ist, aber noch kein Monument. Deutschland weiß nicht mit ihm umzugehen, es ist ja alles noch so frisch. Obwohl die Mitstreiter von früher alle nahebei sitzen, halten sie sich mit Anrufen zurück. Stattdessen erzählen sie den Journalisten, dass Frau Merkel viel umgänglicher sei in den Kabinettssitzungen. Auf dem SPD-Parteitag, der Kurt Beck krönte, da wurde der Ex-Vorsitzende so konsequent verschwiegen, als sei er seiner Partei peinlich. Letztendlich wird es so laufen: In ein paar Jahren flechten die Genossen ihrem Altkanzler vor lauter schlechtem Gewissen Turbane aus Lorbeer, tragen ihm den Ehrenvorsitz an und werden ihn peinlich lang beklatschen. Schröder wird gerührt sein und ein paar echte Tränen verdrücken. Doris auch. Schön ist das trotzdem nicht.