Die Trauminsel

Stille, Menschenleere, Schreiben und Lesen: Nirgends erfüllt sich die ewige Sehnsucht nach Einsamkeit besser als weit draußen im Meer. Unser Autor erlebt das jedes Jahr auf Menorca.

Vielleicht muss man für Inseln eine bestimmte Mentalität besitzen. Inseln sind geschlossene Welten, Gesellschaftsspiele mit eigenen Gesetzen und Regeln für die Menschen, die ständig dort wohnen. Sobald die Touristen fort sind, blühen die Einheimischen auf, sind sie doch endlich wieder unter sich. Die wenigen Fremden, die dann noch zählen, sind diejenigen, die ihre Sprache sprechen, dort permanent leben oder jedes Jahr wiederkommen.

Ich selbst lebe mehrere Monate im Jahr auf einer Insel. Falls irgend möglich, verlasse ich sie während dieser Zeit auch nicht, aber ich habe erlebt, dass durch und durch vernünftige Menschen völlig hysterisch wurden, wenn sie infolge schlechten Wetters oder eines Streiks nicht wegkonnten. Plötzlich ist das Meer zum Feind geworden, zu einer Bedrohung, es entsteht eine Art Urangst, der folglich auch mit keinem Argument beizukommen ist. Dann wird unter großem Kostenaufwand ein Privatflugzeug gechartert, und derjenige, um den es hier geht, kommt nie mehr wieder. Es ist fünfzig Jahre her, dass ich selbst eine ähnliche Situation erlebt habe: Es war mein letzter Aufenthalt auf Ibiza. Der niederländische Dichter Jan Jacob Slauerhoff, einer meiner literarischen Helden, hatte sich in den Dreißigerjahren dort aufgehalten, Walter Benjamin hatte über die Insel geschrieben, Ibiza war noch nicht der Touristenort, zu dem es sich inzwischen entwickelt hat, ich war dort einen langen Winter mit viel Regen und mediterraner Kälte glücklich und unglücklich gewesen, hatte anschließend einen wunderbaren Sommer verbracht, den Stoff für einen Roman gefunden (Inseln eignen sich gut dafür), doch jetzt war es Oktober und schon ein wenig herbstlich, die Stunde der Abreise war gekommen, auf einem der damals noch so schönen weißen Schiffe der Compañía Mediterránea.

Ich hatte meine Koffer und mein Jackett mitsamt Pass bereits in meine Kajüte gebracht und von der Reling aus meinen Freunden gewinkt, die zurückgerufen hatten, es sei noch genug Zeit für einen Abschiedstrunk an Land. Ich war die Gangway wieder hinuntergegangen und stand mit ihnen am Kai, als ich plötzlich merkte, dass sich die hohe weiße Wand rechts von mir zu verschieben begann. Ganz kurz dachte ich noch, ich könne meinem Schicksal entgehen. Ich sah, wie die Strickleiter für den Lotsen heruntergelassen wurde; ich war noch überzeugt, ich könne mit ihrer Hilfe leicht an Bord klettern, doch das war ein Trugschluss. Langsam entfernte sich das Schiff vom Kai, und langsam sahen wir es aus dem Hafen entschwinden mitsamt meinen Koffern und Papieren. Damals fuhr nur ein Schiff pro Woche, das einzige Flugzeug an jenem Tag war bereits voll, wie es im Einzelnen ausging, weiß ich nicht mehr, nur, dass ich einige Tage später mein Gepäck und meine Papiere in Barcelona abholen konnte und seit diesem Vorfall weiß, was eine Insel ist. Es hat mich nicht daran gehindert, in der Folgezeit jedes Jahr viele Monate auf einer anderen Insel zu verbringen. Warum? Ich reise das ganze Jahr über sehr viel, in diesem Jahr zum Beispiel waren es Australien, Bali, Nordthailand. Es macht mir dann nichts aus, große Strecken im Auto zurückzulegen. Hier auf meiner Insel beträgt die weiteste Entfernung 44 Kilometer, von der Stadt im Osten bis zu der Stadt im Westen.

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Meine Frau und ich fragen uns manchmal, wollen wir nach Ciudadela fahren? Und beschließen dann, es nicht zu tun. Zu weit. Entfernungen, Trubel, sie gehören zum Rest des Jahres. Hauptstädte, Flugzeuge. Inseln, das bedeutet Stille, Menschenleere, Schreiben und Lesen. Wer das nicht aushält, hat dort nichts zu suchen. Das Leben besitzt hier seinen eigenen Rhythmus, der Hibiskus wird einem zum Freund, die wilden Feigen werden Anfang September reif, die Kakteen erst ein paar Wochen später. Das Haus steht am Ende eines Sandwegs außerhalb des Dorfes, das zum Abschluss jedes Sommers seine Fiesta feiert. Man verfolgt die Ereignisse auf der Insel in der Zeitung und die Ereignisse der großen Welt als Echo aus der Ferne, selbst ohne Satellitenschüssel holt einen die Welt immer wieder ein. Ein alter Freund, Sanskritforscher, Kalifornier, der jetzt im Norden von Thailand lebt, erzählte, er sehe nie fern, höre nie Radio und lese keine Zeitungen. Als ich meinte, es könnten doch Dinge in der Welt passieren, die wichtig seien, sagte er, »ja, ich weiß, aber das erzählt man mir dann schon«.

Vor einem Jahr war ich auf Spitzbergen, einem Teil des Archipels, den die alten Griechen Ultima Thule nannten. Auch Spitzbergen ist eine Insel, so groß wie die Niederlande und halb Belgien zusammen. Im Winter herrscht dort für vier Monate Nacht, doch auch dort leben Menschen, wenngleich nicht viele.

Nicht umsonst stellten sich die alten Kelten das Jenseits als Insel vor. In meinem Lexikon der Symbole ist die Insel eine Welt im Kleinen, ein Abbild des Kosmos, komplett und vollkommen, ein heiliger Ort inmitten der Erregtheit der profanen Welt und als solcher ein Refugium. Ihre Farbe ist weiß, daher der alte Name Albion für England. Nach einer anderen alten Geschichte wurde der Leichnam des Achilleus von seiner Mutter Thetis zur Weißen Insel gebracht, die in der Mündung der Donau liegt, wo der Held sich mit Helena vermählte und für immer glücklich wurde. Vielleicht sind es diese schon seit Jahrtausenden auf dem Grunde unseres Bewusstseins schlummernden Geschichten, die Menschen immer wieder dazu verleiten, sich auf die Suche nach ihrer eigenen Insel zu begeben.

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Der niederländische Schriftsteller Cees Nooteboom fährt schon seit über vierzig Jahren jeden Sommer nach Menorca. Inseln spielen in einigen seiner Bücher eine Rolle: "Die Insel, das Land"; "Roter Regen"; "Selbstbildnis eines Anderen". Der Erzählband "Absinth" und "Ambre Solaire" spielt teilweise auf Ibiza, ebenso wie sein Roman "Der Ritter ist gestorben".
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Übernachten Im gregorianischen Hotel del Almirante – Collingwood House über Mahón, erbaut von Lord Collingwood, einem Freund Lord Nelsons. DZ ab 65 Euro,
Tel. 0034/9 71 36 27 00.
Essen In der Tapasbar Triton am Hafen von Ciudadela.
Unbedingt die karge Gegend um Far de Faváritx an der Nordostküste mit einem einsamen Leuchtturm am gleichnamigen Cap besuchen.

Olivier Kugler (Illustration)