Noch vor zehn Jahren halfen deutsche Banken Abertausenden Kunden dabei, Geld ins Ausland zu bringen. Als Staatsanwälte auftauchten und Anklage wegen Beihilfe zur Steuerhinterziehung erhoben, schalteten die Banken auf Ethik um. Man ließ sich neue »Leitbilder« schreiben, entwarf hehre »Codes of Conduct« und teilte nicht ohne Gutmenschen-Arroganz mit, dass man jetzt eine tugendhafte »Unternehmenspersönlichkeit« mit eigener »Philosophie« sei. Für ihre Moralisierungsoffensiven setzten die selbst ernannten Ethikexperten auf einen vagen, mehrdeutigen Begriff: »die Werte«. Nahezu alle deutschen Unternehmen preisen in ihren Leitbildern »Corporate Values« an. Und kaum eine deutsche Talkshow über Korruption, Steuer-moral und Managergehälter, in der nicht lautstark nach einer »Wertedebatte« gerufen wird.
Kein Mensch erwartet von seinem Metzger oder Friseur, dass er seine »Werte« ins Schaufenster hängt. Doch im modischen Ethikboom stehen nicht nur Banken unter verschärftem öffentlichem Moralzwang. Natürlich dürfen sie Mehrwert erwirtschaften. Aber bitte nicht von Profit reden, ohne ethische »Werte« zu leben. Auf konkurrenzbestimmten Moralmärkten will jeder der Tugendheld sein. Doch wird in den Leitbildern nur konventionelle Trivialmoral geboten. Derzeit wollen alle nachhaltig, ökosensibel und klimafreundlich wirtschaften. Oft sind die Wertefibeln in religionshaltigem Bekenntniston formuliert. Nicht selten erlag man der Suggestionskraft heiliger Zahlen und schrieb, wie einst Mose, auf seine Wertetafeln zehn Grundsätze. Gern beschwört man unverbrüchliche Geltung: »Das Topmanagement der Telekom hat sich dazu bekannt, die Unternehmenswerte konsequent vorzuleben und zu verankern.« KraussMaffei pflegt »gegenseitiges Vertrauen, Verlässlichkeit, Fairness, Ehrlichkeit und eine offene Kommunikation auf allen Ebenen unseres Unternehmens«, wozu auch »der Arbeitsplatz sauber zu halten« ist. Die »fundamentalen Werte« gelten hier nicht bloß, nein, sie sind »unbedingt verbindlich«. Welch eine Offenbarung für sündhafte Wesen in einer unüber-sichtlichen Welt der vielen Relativitäten.
Topwerte im ethischen Überbietungskampf sind aktuell »Respekt vor dem Anderen«, »Anerkennung von Verschiedenheit«, »Transparenz«, »Offenheit«, »Integrität« und gern auch »die Menschenrechte«. Auch muss sich der moralisch supersensible Mitarbeiter »fortwährend« und »ständig verbessern« – auch im Schlaf?
Dass in der deutschen Wirtschaft »Werte« Mangelware sind, stimmt einfach nicht. Ganz im Gegenteil wird Moralstress erzeugt und ein Leitbild vom edlen, freundlichen, wohlgelaunten und kompetenten Mitarbeiter gemalt – mit fatalen Folgen. Denn wo viel Tugend herrschen soll, sind die Allmachtsfantasien der Moralstolzen nicht weit. Nokia etwa verpflichtet sich gleich »zur Kontrolle des ethischen Verhaltens seiner Zulieferer«. Will man Wertefahnder in andere Unternehmen schicken?
Auf moralisierten Märkten setzen viele Akteure nun auf »Corporate Social Responsibility«, etwa auf Projekte für Straßenkinder, HIV-Waisen oder den Regenwald. Wer mag bestreiten, dass dies in vielen Fällen gut ist? Doch warum muss man seine guten Werke marktschreierisch zur Schau stellen? Das erklärt sich aus Moralverwertungsinteressen. Mit Wertemarketing hofft man langfristig mehr Gewinn zu machen. Nachhaltige »Werte«-Rhetorik dient dem »Wertemanagement« zur »Steigerung des Unternehmenswertes«, wird zum werbewirksamen Element der »Wertschöpfungskette«. Das ist in einer kapitalistischen Marktwirtschaft legitim, bringt aber das Problem kontraproduktiver Folgen subjektiv gut gemeinter Intentionen mit sich: In der Moralkonkurrenz steigert man sich wechselseitig in die Maßlosigkeiten einer absolut gesetzten, lebensweltlich irrealen Hypermoral hinein. »Moralhypertrophie« hat der konservative Soziologe Arnold Gehlen dies einst genannt.
Die eigene Moralität muss am Markt »sichtbar« sein, sonst bringt sie keinen Kassennutzen. »Visibility« aber braucht das Grelle, Demonstrative. So treten Unternehmen in eine Peinlichkeitskonkurrenz ein. Manche wundersam absurden Formulierungen bezeugen dies. Überall steht der »Kunde im Mittelpunkt«. KraussMaffei leitet daraus für die Mitarbeitenden ab: »Wir alle verstehen uns als Kunden und stellen sicher, dass wir unseren Kollegen wie einen Kunden behandeln.« Unterhält man zu Kollegen gewinnorientierte Geschäftsbeziehungen? Nirgends werden in den Wertekatechismen deutscher Unternehmen Wertwidersprüche und Interessengegensätze thematisiert. »Wir orientieren uns an den Interessen unserer Aktionäre, unserer Kunden, unserer Mitarbeiter, unserer sonstigen Geschäftspartner«, erklärt Bayer. Was aber, wenn die Aktionäre ganz andere Interessen als die Mitarbeiter oder die Geschäftspartner haben?
Auf die jüngsten Skandale – Siemens, Liechtenstein, Telekom – ist im Lande wieder mit dem Ruf nach noch mehr Werten reagiert worden. Dies zeigt nur Hilflosigkeit und Naivität. Angesagt sind nüchterner Realismus und Moralisierungsfolgenabschätzung. Alle globalen Unternehmen, die in den letzten Jahren durch Korruption auffielen, hatten wunderbar zu lesende Ethikcodices. Bewirkt haben die Tugendkataloge nur wenig. Also muss man fragen: Was sind eigentlich ethische »Werte«? Welche moralische Bindungskraft können sie entfalten? Wie erklärt sich ihre Wirkungslosigkeit?
»Wert« ist ein vieldeutiger, schillernder Begriff. Jedenfalls kennt die deutsche Sprache ganz viele Wertewörter: Wertverlust und Werteverfall, Wertsteigerung und Wertewandel, wertvoll und wertlos. Seine Karriere begann »der Wert« in ökonomischen Zusammenhängen, im Streit um die Frage, woran der auf dem Markt zu erzielende Preis einer Ware sich zu orientieren habe. Um Tauschwert und Gebrauchswert ging es hier. Seiner Herkunft nach gehört der moderne Wertbegriff in den Börsensaal. Irgendwann aber, wohl im frühen 19. Jahrhundert, entfaltete er auch jenseits der Güter- und Finanzmärkte Faszinationskraft. Die Durchsetzung der bürgerlichen Marktgesellschaft hatte zur Freisetzung des Einzelnen aus überkommenen ständischen Bindungen geführt. Moralisch sensible Zeitgenossen erlebten dies als Sittenkrise und sahen im neuen Individualismus eine zerstörerische Kraft, die elementare Solidarität auflöse. So beschwor man neue »Kulturwerte« der deutschen Nation, um die vielen freien Nutzenmaximierer wieder in einen bergenden Sozialverband zu integrieren.
Die römisch-katholische Kirche empfahl jedoch ganz andere Werte als protestantische Konservative, jüdische Liberale oder gottferne Sozialdemokraten. Um 1900 lässt sich eine Überproduktionskrise von Werten beobachten, weil zwar alle Akteure im öffentlichen Moraldiskurs über einen Werteverlust klagten, aber jeder seine Spezialwerte den jeweils anderen als allseits bindende Grundwerte aufzwingen wollte. 1903 sprach der Philosoph Wilhelm Dilthey deshalb von der »Anarchie der Werte«. Denn je mehr Werte in öffentlichen Moraldebatten zirkulieren, desto stärker drohen sie sich wechselseitig zu relativieren und zu schwächen.
Wir haben in modernen Gesellschaften nicht zu wenige, sondern viel zu viele Werte. Auch auf Moralmärkten bedeutet Inflation nur Entwertung. Werte wirken nicht, weil immer neues Wertgerede abwertend wirkt.
Moderne Wissensgesellschaften sind in Sachen Moral hoch pluralistisch. Was dem einen heilig, ist für die andere nur widerliche Kleinbürgermoral. Frau Meier hält für tabu, was Herr Müller als ärgerliche Schranke seiner Selbstverwirklichung beseitigen will. Der Preis der Freiheit ist die Pluralisierung des Moralischen. Sie lässt sich nicht rückgängig machen. Selbst wenn die Kirchen einen Anspruch auf Definition allgemeingültiger Moralstandards erheben, können sie doch keinerlei Bindungskraft garantieren. Zudem sind sie wenig transparent, dicht verfilzt, pfründefreudig und in ihrem häufig machtfixierten Führungspersonal selten moralsensibel überzeugend. Inszenieren sie sich als Bundeswerteagenturen, so vermischen sie gern moralische Sprache und konfessionsspezifischen Glaubenscode. Weshalb aber sollte ein Protestant, Jude oder Muslim die offizielle Sexualethik katholischer Bischöfe für verbindlich halten? Moralische Plausibilität wird nur geschwächt, wenn Wertepriester sie religiös zu stärken suchen.
Im Ethikdiskurs gelehrter Experten wird seit gut 200 Jahren über eine elementare Unterscheidung Immanuel Kants diskutiert: den freiheitsdienlichen Unterschied von Legalität und Moralität. Rechtliche Normen und Pflichten sind von prinzipiell anderer Art als moralische Normen und Verbindlichkeiten. Der Staat kann äußere Handlungen verbieten oder erzwingen, etwa dafür sorgen, dass ich vor roten Ampeln anhalte. Aber der moderne freiheitliche Rechtsstaat darf nicht das Innere des Menschen, seine Gesinnung oder sein Gewissen, regulieren wollen. Denn suchte der Staat über das äußere Handeln der Bürger hinaus auch ihre Moral zu steuern, wäre er bald ein wertideologisches Terrorregime.
»Beim Himmel! Der weiß nicht, was er sündigt, der den Staat zur Sittenschule machen will. Immerhin hat das den Staat zur Hölle gemacht, dass ihn der Mensch zu seinem Himmel machen wollte«, kann man bei Hölderlin lesen. Auch Unternehmen taugen nicht zur Sittenschule oder Werteagentur. »I’ll teach you differences«, heißt es bei Shakespeare. Prägnante Unterscheidung ist angesagt, wenn es bei manchen Akteuren um den Rechtsgehorsam schlecht bestellt ist. In vielen Unternehmensleitbildern werden grundlegende Unterschiede zwischen staatlichen Rechtsnormen, moralischen Sollensforderungen und allgemeinen Anstandsregeln heillos verwischt. Eine Münchner Großbank unterscheidet in ihrer Integritätscharta »drei Ebenen des Rechts«: erstens staatliche Gesetze, zweitens alle die Beziehungen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer regelnden internen Normen, etwa Betriebsvereinbarungen.
»Die dritte Ebene des Rechts beinhaltet schließlich die Werte, die sich in dieser Integrity Charter niederschlagen« – eine ebenso falsche wie fatale Botschaft, weil hier die Eigenlogik des Rechtssystems verkannt und damit ungewollt die Geltungskraft staatlichen Rechts relativiert wird. Wer in überbordender Werte-rhetorik Recht und Moral entdifferenziert, den elementaren Unterschied zwischen dem Rechtlichen und dem Moralischen aufhebt, der nimmt das Recht nicht ernst und lädt nur dazu ein, es mit seiner Geltung nicht allzu genau zu nehmen. Doch es ist ein grundlegender Unterschied, ob man Gesetze missachtet oder unmoralisch handelt. Und Stil, Taktgefühl, souveräne Distanz zu den mancherlei Peinlichkeiten des Alltags können auch Compliance-Offiziere nicht verordnen.
Hypermoral an allen Orten – das scheint ein Preis der Moderne. Je mehr der Mensch kann, desto mehr muss er über mögliche Grenzen seines Tuns nachdenken, und dies führt unausweichlich in verstärkte Moralproduktion. Nie zuvor gab es so viele angewandte Spezialethiken für nahezu alle Sphären unserer Kultur. Wer im öffentlichen Meinungskampf seinen Wertejoker zieht, hat schnell gewonnen. Moral taugt auch als Waffe. Einer der berüchtigtsten deutschen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts, der katholisch-kleinbürgerlich sozialisierte, sarkastisch antiliberale und eine Zeit lang führende nationalsozialistische Verfassungsjurist Carl Schmitt hat denn auch die viel zitierte Gegenformel zu Diltheys »Werteanarchie« geprägt: In brillanten Analysen jenes Moralgeredes, das die medialen Öffentlichkeiten der Moderne durchwabert, deutete Schmitt mit hellsichtig-bösem Blick »die Tyrannei der Werte«.
Sie stehen wie Götzenstatuen im Moraldiskurs moderner Gesellschaften und fordern anbetende Devotion. Welche Werte hast du?, wird man neuerdings gefragt. Wer traut sich noch zu sagen, dass es die Leute in freiheitlichen Gesellschaften eigentlich gar nichts angeht, nach welchen Prinzipien und selbst gewählten Maximen jemand sein Leben führt? Im demokratischen Rechtsstaat muss von den Bürgern und Bürgerinnen allein die Tugend des Rechtsgehorsams eingeklagt werden. Nur das Recht gilt für alle. Wer darüber hinaus eine innere, sittliche Bindung an irgendwelche wahren schönen Werte verlangt, fördert nur bei den einen Moralterror, bei anderen sehr viel Doppelmoral.
Friedrich Wilhelm Graf lehrt Systematische Theologie und Ethik an der Ludwig-Maximilians-Universität München.
Fotos: Niko Schmid-Burgk