SZ-Magazin: Befindet sich die Gesellschaft gerade in einer traumatischen Situation?
Tanja Michael: Nein. Als Traumaforscherin bin ich für eine sehr strenge Definition des Begriffs. Er bezeichnet die Konfrontation mit tatsächlichem oder drohendem Tod, ernsthafter Verletzung oder sexueller Gewalt. Traumata beziehen sich außerdem in der Regel auf Individuen, nicht auf eine ganze Gesellschaft. Aber es gibt natürlich Menschen, die derzeit traumatischen Situationen ausgesetzt sind.
Wer zum Beispiel?
Allen voran diejenigen, die mit schweren Komplikationen an Covid-19 erkranken und dadurch mit dem Tod bedroht werden. Ich würde das auch ausweiten auf das Pflegepersonal und die behandelnden Mediziner, die dieses Leid mit ansehen müssen. Die zweite Gruppe sind die Menschen, die durch die Ausgangsbeschränkungen permanenten häuslichen Übergriffen ausgesetzt sind. Wir wissen, dass etwa 20 Prozent der Kinder und Jugendlichen in Deutschland Opfer von sexuellem Missbrauch, körperlicher Gewalt und Vernachlässigung werden. Man kann sich vorstellen, dass sich ihre Lage gerade deutlich verschlimmert. Die allermeisten von uns werden die Situation zwar als belastend, frustrierend und nervig empfinden, jedoch keinen langfristigen Schaden nehmen. Wir Menschen sind widerstandsfähiger als wir selbst meinen.