SZ-Magazin: Einsamkeit trifft nicht nur ältere Menschen. Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov im Oktober 2020 hat sich insgesamt die Hälfte der 18- bis 24-Jährigen »sehr oft« oder »eher oft« einsam gefühlt. Welche Ursachen sehen Sie dafür?
Caroline Bohn: Schon vor Jahren wusste ich von Studierenden, die sich sehr einsam fühlten, weil der Leistungsdruck einfach zu hoch ist. Die Wettbewerbssituation setzt junge Menschen unglaublich unter Druck. Hinzu kommt die perfekte Selbstdarstellung nach außen und in den sozialen Medien – und dass man jetzt durch Corona nur wenig Zeit mit Freunden verbringt. Außerdem sind die Zeiten und Verhältnisse wegen Corona unsicher und instabil, und das begünstigt immer Einsamkeitsgefühle.
Ich habe mich manchmal geschämt, wenn ich an einem Wochenende nichts Tolles vorhatte und dann sah, dass Bekannte auf Instagram einen Kurztrip mit vielen Freunden gemacht haben. Warum sind Einsamkeit und Schamgefühle so eng miteinander verknüpft?
Die Einsamkeit ist immer in ein Geflecht anderer Emotionen eingebunden. Wenn wir einsam sind, haben wir Sehnsucht, Trauer oder Langeweile und eben auch das Gefühl der Scham. Einsamkeit und Scham liegen ganz dicht beieinander.

Dr. Caroline Bohn ist Emotionssoziologin, Psychoonkologin und Coachin mit Praxis in Witten.
Foto: Privat
Verstärken sich diese beiden Gefühle auch gegenseitig?
Absolut. Wer einsam ist, schämt sich oft für die Einsamkeit. Weil ich das Gefühl habe, nicht richtig zu sein, nicht zu genügen. Und wer sich schämt, ist einsam, weil Scham das größte Tabuthema überhaupt ist. Auch zutiefst vertrauten Menschen werden Sie von Ihren tiefen Schamgefühlen kaum erzählen können. Das ist ein Dilemma, weil beide Gefühle den Kontaktprozess hemmen. In dem Moment, in dem ich mich schäme, signalisiere ich meinem Gegenüber: Bitte verschone mich, schau da nicht so genau hin, sprich mich nicht darauf an. Und wenn ich einsam bin, dann bin ich auch schon gelähmt. Ich muss mein Einsamkeitsgefühl und meine Scham in dem Geflecht aus Gefühlen aber erst einmal identifizieren, um überhaupt damit umgehen zu können. Einsamkeit ist ein Gefühl innerer Leere. Ich bin niedergeschlagen und fühle mich ausgeschlossen von anderen. Ich weiß nicht mehr, wo ich hingehöre, oder besser, zu wem ich gehöre. Es ist wie ein tiefes, inneres Frösteln.
Nicht jeder, der allein ist, fühlt sich einsam. Und manchmal fühlen sich auch Menschen einsam, die nicht allein sind, sondern zum Beispiel in einer Gruppe mit anderen Menschen zusammensitzen. Wie würden Sie denn den Zusammenhang zwischen Alleinsein und Einsamkeit beschreiben?
Einsamkeit ist das subjektive Gefühl. Und Alleinsein ist der objektive Zustand: Ich sitze zum Beispiel in einem Zimmer und bin allein. Was ich spannend finde: Die wenigsten Menschen sagen, dass sie sich einsam fühlen. Die Menschen sagen meistens: Ich fühle mich allein. Das ist ein Paradoxon, weil sie sich nicht allein fühlen können – Alleinsein ist wie gesagt kein Gefühl. Da wird der Zusammenhang mit Scham wieder deutlich: Ich schäme mich zu sehr, öffentlich zuzugeben, dass ich einsam bin. Also sage ich, dass ich mich allein fühle. Zu Ihrer Frage: Ich kann mich in der Gruppe einsam fühlen, also unter vielen Menschen. Es bedeutet, sich nicht zugehörig zu fühlen. Das kann genauso auf einer Party wie in meinem Elternhaus passieren.
Würden Sie Einsamkeit so definieren: als Gefühl der Unzugehörigkeit?
Es gibt natürlich die klassische Definition: die Diskrepanz zwischen den tatsächlich vorhandenen und den erwünschten Beziehungen. Das heißt, ich habe weniger Beziehungen, weniger Kontakt, weniger Nähe zu anderen, als ich mir wünsche. Aber das Gefühl der Unzugehörigkeit ist ein ganz wesentliches bei der Einsamkeit. Um das Einsamkeitsgefühl zu lindern, reicht oft sogar eine Person, bei der ich glaube, dass ich einen Wert für sie habe und der ich mich zutiefst verbunden fühle.
Es gibt ja auch große Unterschiede im Erleben: Manche haben einen großen Freundeskreis und fühlen sich trotzdem einsam, andere Menschen haben nur wenige Bezugspersonen, sind aber zufrieden.
Es geht um Nähe und eine innere Verbundenheit, nicht um die Menge. Ich kann noch so viele Freunde haben und mich trotzdem zutiefst einsam fühlen, wenn es oberflächliche Kontakte sind. Wichtig ist, dass ich das Gefühl habe, einem anderen Menschen wirklich etwas zu bedeuten. Es gibt auch Partnerschaften, in denen ich mich zutiefst einsam fühlen kann, weil ich mich auseinandergelebt habe mit dem Partner oder meiner Partnerin.
Warum sind Menschen schlecht darin, mit der Einsamkeit anderer Menschen umzugehen?
Wenn Menschen erfahren, da ist ein Mensch einsam, dann bekommen sie erst mal einen Schreck. Mit Ratschlägen wie »Mensch, geh doch mal raus!« helfen sie der einsamen Person auch nicht, sie fühlt sich noch mehr unverstanden. Das bewirkt eine große Hilflosigkeit im Gegenüber. Und dann passiert das Furchtbare, dass die Menschen sich von der einsamen Person abwenden. Ich arbeite unter anderem in der Psycho-Onkologie, da gibt es das gleiche Phänomen, dass Bekannte von Patienten, sobald sie vom Krebs hören, völlig hilflos werden, nicht wissen, was sie machen sollen, und sich dann entfernen.
»Ich bin der festen Überzeugung, dass jeder Lebensübergang oder jede Phase der Neuorientierung immer einen Schuss Einsamkeit enthält«
Wie kann man einer einsamen Person denn helfen?
Indem man Präsenz und Mitgefühl zeigt: Ich bin da, ich trage das mit, ich fühle mit dir, und es ist eine schwere Zeit. Und natürlich immer Angebote machen, etwas zu unternehmen, aber ohne Druck.
Von Seneca ist das Zitat überliefert: »Ich habe begonnen, mir selbst ein Freund zu sein. Damit ist schon viel gewonnen, denn man kann dann nie wieder einsam sein.« Stimmen Sie ihm zu?
Sich selbst ein Freund zu sein, das würde ich befürworten. Aber was Seneca sagt, dass die Einsamkeit dann nicht mehr auftritt, das sehe ich nicht. Die Einsamkeit geht nicht weg. Wir können sie nicht aus unserem Leben verbannen. Sie gehört zum Leben. Ich bin der festen Überzeugung, dass jeder Lebensübergang oder jede Phase der Neuorientierung immer einen Schuss Einsamkeit enthält. Es darf deswegen nicht darum gehen: Was mache ich gegen die Einsamkeit? Sondern eher: Was mache ich mit der Einsamkeit? Sich zu sagen: Es ist in Ordnung, einsam zu sein. Wir wollen in unserer Gesellschaft immer die ganzen vermeintlich negativen Gefühle weghaben, aber das funktioniert nicht. Sie gehören dazu, und sie haben ihren Wert. Auch wenn ich mich einsam fühle, hat das eine Funktion: Ich würdige etwas damit – zum Beispiel nach einem Verlust den Wert der Beziehung oder das bisherige Leben, das sich nun verändert hat.
Sie haben vorhin schon angedeutet, dass der erste Schritt darin bestehe, die Einsamkeit im eigenen Leben zwischen den vielen ähnlichen Gefühlen überhaupt zu erkennen. Haben Sie einen Hinweis, wie man sich in diesem Moment selbst etwas Gutes tun kann?
Es gibt eine praktische Übung, die ich immer wieder einsetze. Ich nehme als Beispiel: Sie sind jetzt vielleicht gerade verlassen worden, sind traurig und fühlen sich einsam. Und das schreiben Sie in einem Brief an sich selbst auf: »Es ist doch verständlich, dass du im Moment einsam bist. Du hast eine schwere Zeit hinter dir. Du bist getrennt. Du hast eine jahrelange, sehr kostbare Beziehung gehabt, die zwar schwere, aber eben auch schöne Zeiten hatte. Und es ist ganz normal, dass das du jetzt traurig bist, dass du jetzt eine einsame Phase durchmachst …«. Das ist eine sehr schöne Übung, um in das eigene Gefühlsleben einzutauchen und ein Selbstmitgefühl zu entwickeln. Abgesehen davon würde ich mit viel Selbstmitgefühl überlegen: Was tut mir gut? Und alles, was guttut, ist richtig. Das ist eine Grundregel.
Wie sollte man im Anschluss weiter vorgehen?
Das Einsamkeitsgefühl kann wieder vergehen oder sich wandeln. Aber wenn es länger anhält oder immer wiederkehrt und Sie darunter leiden, ist der nächste Schritt zu sagen: Will ich das jetzt beenden? Also bewusst die Entscheidung zu treffen, dass ich etwas ändern möchte. Dann geht es darum zu sagen: Was ist überhaupt mein Bedürfnis? Wo liegt meine Sehnsucht? Will ich mehr Kontakte? Und wenn ich die will, in welcher Art? Wer oder was kann mir dabei helfen? Ich finde zum Beispiel auch spannend, dass sich wegen Zoom Menschen, die einsam sind, vielleicht eher trauen, an einer Veranstaltung wie einem Kurs an der Volkshochschule teilzunehmen, als wenn sie dort hingehen müssten. Das kann auch eine Möglichkeit sein, sich zumindest etwas verbunden zu fühlen oder das Gefühl zu haben: Ich bekomme irgendwie mehr mit.
Was ist, wenn man sich sogar überwindet, an einer Veranstaltung teilzunehmen – und dann doch enttäuscht ist, weil man sich danach nicht besser fühlt?
Wenn sich ein einsamer Mensch traut, zu einer Veranstaltung zu gehen, ist das ein wahnsinniger Kraftakt. Manche fühlen sich dann noch einsamer, weil sie doch wieder niemanden haben, mit dem sie da geredet haben, und sich nichts ergeben hat. Aber allein sich anzuerkennen, ich bin vor die Tür gegangen, ist schon unglaublich viel wert.
Was kann in dieser Situation außerdem helfen?
Vor allen Dingen geht es darum, ins Handeln zu kommen. Sich zu fragen: Was könnte mich mit Sinn erfüllen? Was sind meine Werte? Möchte ich mich politisch engagieren, vielleicht malen, oder gibt es einen Sport, der eine Bedeutung für mich hat? Wenn ich etwas Sinnvolles tue, kann ich auch die Einsamkeit oft besser aushalten. Und es gibt viele Hilfsangebote. Wenn sich Menschen haltlos fühlen oder es ihnen schlecht geht, ist es wichtig, sich professionelle Hilfe durch einen Therapeuten zu holen. Oder allein schon, dass man in einem schweren, einsamen Moment die Telefonseelsorge anruft. Dass da Tag und Nacht jemand ist, den man anrufen kann, ist vielen gar nicht klar.
Wenn man merkt, dass man mehr enge Beziehungen in seinem Leben haben möchte – kann es dann auch helfen, alte Kontakte zu reaktivieren?
Das kann eine gute Idee sein. Es passiert ganz oft, dass Menschen den Kontakt zu einem früheren Freund als extrem bereichernd empfinden. Nicht nur, weil er Zeuge der eigenen Lebensgeschichte ist, sondern auch, weil Verbundenheit schnell wieder aktiviert werden kann. Auch wenn zehn, 20 Jahre dazwischen liegen, lodert das ganz schnell wieder auf. Außerdem kann es hilfreich sein, über die eigenen Ansprüche nachzudenken. Ich glaube, dass wir manchmal sehr hochmütig sind und sehr hohe Ansprüche an andere Menschen und Freundschaften haben. Ich würde mich hinterfragen: Kann jemand meinen Ansprüchen überhaupt genügen? Oder disqualifiziert sich jeder gleich in meinen Augen? Wir brauchen Zeit, damit sich zu Menschen etwas aufbauen kann. Vielleicht ist eine neue Freundschaft nicht gleich tief, aber vielleicht entwickelt sie sich in diese Richtung. Und ich wage den ersten Schritt.