100 Fragen an ... Martin Walser

Anlässlich seines 80. Geburtstags am 24. März 2007 können Sie hier noch einmal das Interview mit Martin Walser lesen.

Ein »Palais II« genannter Konferenzraum im Hotel »Le Meridien«, Frankfurt, Bahnhofsviertel: Ausweichort für das Interview, das ursprünglich als öffentliche Veranstaltung vor Publikum stattfinden sollte, aber von linksautonomen Gruppen gesprengt wurde. Teppich, Bücherwände. Rollläden runter. Walser: Jahrgang 27, seit fünfzig Jahren Schriftsteller, »Epiker der Alltagswelt«, einst moralische Instanz, heute Skandalautor. Es wird echt immer skandalöser mit ihm. Aus dem Katalog der Vorwürfe: Nationalist, geistiger Brandstifter, vieles mehr. Der FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher hatte ihm einen Vorabdruck verweigert mit der Begründung, der Roman sei ein »Dokument des Hasses«, das »Repertoire antisemitischer Klischees unübersehbar«. Aua! Der Kritiker, der austeilt. Der Künstler, der sich missverstanden fühlt. Was alles erklärt, geklärt, bedacht werden muss, bevor die erste Frage an Walser gestellt werden kann. Es nervt. Es strengt die Walser-Problematik (Kritiker vs. Künstler, altes Deutschland vs. alter Mann) so furchtbar an. Man hat als Interviewer auch einfach Angst vor ihm: dass man den Problemen, die er mit sich herumträgt, nicht gewachsen ist. In Journalistenkreisen heißt es: Vergiss es. Der wirft dich raus. Aus dem Literaturressort der SZ kommt der gut gemeinte Tipp, man solle ihn auf die alten Kelten ansprechen, die faszinierten ihn. Aha. Ja. Faszinierend. Da sitzt er nun ohne die große Brille im Gesicht. Buschige Augenbrauen. Breite Gestalt. Null Bäuchlein unter seinem weißen Oberhemd. Nickt hierhin, lächelt dorthin: Aha! Ja ja! Ja, meinen Sie? Noch Obstkuchen? Ist ja interessant! Freundliches Parlieren. Seine Stimme: ein Singsang in niedrigen Frequenzen, murmelnd, brummelnd, raunend, schwäbisch eingefärbt als könnte er jeden Moment das Geheimrezept für einen Kräutertee vom Bodensee verraten! Obacht! Man soll die Ohren spitzen, wenn er spricht! Er: »Ich finde die Verlegung von der schönen literarischen Öffentlichkeit in Göttingen in ein Hoteletablissement...« Er brüllt: »Für mich ist das zum Kotzen, dass ich hierhin ausweichen muss! Verstehst du!« Verstanden. Er kennt die Form, auf die er sich hier eingelassen hat. Geprügelt wird sich später. Nun unsere Fragen.

1 Obstler oder Cognac?
Calvados. Das ist sowohl Obstler wie Cognac. 2 Romika oder Birkenstock?
Weder noch. Ideal für mich sind die kennen Sie gar nicht Hogan's. Der von Tod's hat einen Sohn, der stellt die Hogan's her. Organische Schuhe. Das Gehparadies.

3 Bahncard 25 oder Bahncard 50?
Ich hatte immer 50. Weiß auch nicht, warum ich jetzt 25 habe.

Meistgelesen diese Woche:

4 Sicher, dass Sie in der ersten Klasse nichts verpassen?
Ich habe lange genug in der zweiten mitgelitten. Ich hätte einiges nicht schreiben können, wenn ich nicht so lange zweite gefahren wäre. Entweder es liegt an meinen Nerven oder an der zweiten Klasse: Ich wurde inkompatibel. Wenigstens schütze ich das vor. Ich fahre achtzig bis 110 Tage im Jahr. Bei meiner Kilometerzahl habe ich die erste verdient. Dazu sagt Meßmer: Die Herren in der ersten müssen immer arbeiten, sonst können sie sich die erste nicht leisten.

Meßmer: sein literarisches Alter Ego. Siehe Meßmers Gedanken (1985), Meßmers Reisen (2003).

5 Pilzesammler? Käfersammler?
Käferretter? Vielleicht.

6 Trinken Sie abends eigentlich viel an Ihrem Bodensee?
Ich weiß nicht, was viel wäre. Wenn ich unterwegs bin, trinke ich jeden Abend zu viel.

7 Zieht man bei Walsers daheim die Schuhe aus?
Nein. Ich verstehe das Bedürfnis. Denn ich habe Teppich. Überall. Teppiche, die ich liebe. Es wäre ganz wunderbar, wenn wir diese Teppiche nicht mit unseren Sohlen schmähten. Aber – wir tun es.

8 Brustschwimmen oder kraulen?
Nur kraulen. Aber das liegt daran, dass ich keinen Hals habe. Wenn ich einen hätte, dann würde ich auch brustschwimmen. Nein, wirklich wahr. Ich kraule jeden Morgen etwa vierzig Minuten.

Murmel. Zischel: Schriftstellerlaute. Er wirkt sympathisch, weil nicht vollends souverän. Man hat jetzt Lust, ihn wieder mal laut zu hören. Ihm also eins vor den Bug böllern; ihn testen. Achtung! Sie! Schriftsteller! Bumm!

9 Rein sprachlich beurteilt: Lieber vögeln oder bumsen?
Bumsen ist: Leitungsmasten in die Luft sprengen. Das ist ja nicht das, was einem dabei vorschwebt.
Null Problem für ihn. Er ist ja Künstler. Spöttisches Walser-Grinsen. Er kann flüstern, brüllen, grinsen kann er also auch. Das wird ein toughes Verhör. Hier wird sich nichts geschenkt. Voll drauf! Volles Risiko! Go! Go!

10 Ihnen klar, dass Sie exakt vor fünf Jahren am 11. Oktober 1998 Ihre berühmte Paulskirchen-Rede gehalten haben?
Brauch' kein Jubiläum, um daran zu denken.

11 Ist die Paulskirche eigentlich ein schöner Bau?
Von außen? Innen? Das Beste, finde ich, ist die Wandelhalle mit dem Rundgemälde von Grützke.

12 Mit welchen Worten begrüßen Sie den neuen Vizepräsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland Salomon Korn?
Grüß Gott! Ich begrüße ihn sehr herzlich. Haben Sie das Interview mit ihm gelesen? Zitat Korn: »Ich halte Walser nicht für einen Antisemiten.« Ich möchte diesen Satz auf Transparente schreiben! Ich möchte diesen Satz auf Demonstrationen lesen!

13 Unter uns: Gibt es eine peinlichere Beschimpfung als Antisemit?
Keine.

14 Was hat der Pöbel, der demonstriert, gegen Sie?
Ich habe gestern Abend hier in Frankfurt in der so genannten Zentralbibliothek an der Zeil gelesen. Da gibt es eine dreißig Meter lange Glaswand. Ein Mädchen verteilt ein Flugblatt. Dann gehe ich da rein: ein evangelischer Supermarkt mit einer für den Lesenden anstrengenden Stuhlanordnung. Und draußen, abgehalten von ziviler Polizei, die Demonstranten. Die donnern gegen die Glaswände. Ich lese den letzten Satz des Flugblatts. Dieser Satz, an mich adressiert: »Ihre Freiheit ist unsere Niederlage.« Das heißt: Wenn Sie, Walser, unfrei wären, haben wir gesiegt. Heißt es das nicht?

15 Der übelste körperliche Übergriff auf Sie?
Gut die sind alle ganz zahm. Diese Protestierer sind nicht böse. Nur FAZ-betäubt. In Erfurt vor zwei Jahren, da hat man eine Resolution gegen mich verlesen. Ich: Bitte. Machen Sie. Dann hat man versucht, mich an meiner Lesung zu hindern. Da habe ich angefangen zu schubsen. Ich erwischte einen netten, zarten Burschen. Er, brüllend: Fassen Sie mich nicht an! Mein Vater ist Staatsanwalt! Da wusste ich, mit wem ich es zu tun habe: Bürgerkinder. Denen ist langweilig.

16 Gilt Ihr Angebot, dass jeder, der Sie »Antisemit« nennt, sich bei Ihnen eine Ohrfeige abholen kann?
Das war eine Zeit lang das Bedürfnis: einfach schlagen. Vielleicht ist es dir dann wohler. Die Phase ist vorbei. Ich versuche es jetzt mit Dalai-Lama-Gestik.

17 Wie hieß das Gasthaus Ihrer Eltern?
Zuerst hieß es »Bahnhofrestauration«. Dann hat es mein Bruder, der es seit vierzig Jahren führt, neu gebaut als »Walserhof«.

18 Die heimische Biersorte?
Zu meiner Zeit hieß es Inselbräu. Inzwischen ist das beste das Humpitz aus Ravensburg.

19 Hieß »in der Gastwirtschaft aushelfen«, dass Sie dicken Männern, die ins Bier stieren, das leere Glas wegnehmen und das volle hinstellen?
In unserer Wirtschaft in Wasserburg stieren keine dicken Männer ins leere Glas, sondern helle Köpfe diskutieren das Schicksal der Welt! Serviert habe ich nicht. Ich war in der Infrastruktur tätig.

20 Welche sprachlose Geste Ihres Vaters steht Ihnen vor Augen?

Wie er die Hand gegeben hat. Nie zupacken. Es war eine schüchtern sich hebende, fast nicht zum anderen hinreichende, abwartende Art. Dass der andere 51 Prozent zu ihm käme, er nur 49 der Strecke entgegenkommen musste.

21 War es eine Ohrfeigen-Kindheit?
Ich habe nur eine Ohrfeige bekommen. Eine einzige. Da habe ich einen Fehler gemacht. Mein Vater war die absolute Anti-Ohrfeige. Ich bin überzeugt, dass er unter dieser Ohrfeige danach mehr gelitten hat als ich.

22 Was ist noch mal der Unterschied zwischen Erinnerung und Gedächtnis?
Gedächtnis können Sie rufen. Erinnerung muss kommen.

23 Ihre erste Uniform?
Jungvolk.

24 Ob Sie noch einen der Verse auswendig können, die Sie 1939 als 12-Jähriger geschrieben haben?
Es war alles sehr schillerisch durchflutet. Schade, Sie dürfen einem ja keine Zeit geben zum Nachdenken. Steht alles im Springenden Brunnen. Und klingt dann so: Das sind keine Erdengluten/Die mir durch die Adern fluten.

25 Wie hieß die blonde Gretel, der alle Walser-Kunst um 1940 galt?
Weiß nicht, was Sie jetzt alles zusammenbringen. Gretel hat sie jedenfalls nicht geheißen. Blond war sie auch nicht. Um 1940, da musste ich meine Gedichte noch ins erotisch Unbesetzte, ins Zukünftige schreiben.

26 Ihre Lektüre im Mai 1945?
Die war grandios. Ich war im Gefangenenlager in Garmisch. Ich hatte gemerkt, dass unten drin die Bibliothek des Reichssenders München exquartiert war. Ich bin also nicht mehr zum Panzerwaschen auswärts gegangen, wo ich mein Weißbrot verdiente, sondern habe mich zum Bibliothekar ernannt. Und habe drauflos gelesen. Das Gefangenenlager habe ich mit einem Rucksack voller Bücher verlassen: zwei Bände Stifter. Oskar Walzels Gehalt und Gestalt. Ich war der Einzige im Lager, der keine Läuse bekam. Daraus schloss ich, dass Stifter zu lesen die Läuse abhält.

27 Ihr Ernst, dass Sie 1945 18 Jahre alt waren?
Das muss wohl stimmen.

Nein. So wird es nichts. Die 100 Fragen kriegen keinen Speed. Neue Taktik: ihm nachgeben. Ihn ausreden lassen. Keine Unterbrechung bis zur Frage 81: Go!

28 Ein typisches Insekt vom Bodensee?
Die Schnake.

29 Eigener Bootssteg?
Ich besitze ja kein Boot mehr.

30 Ihr schattiges Plätzchen in Ihrem Garten?
Es gibt dort sieben Eichen, zwischen siebzig und hundert Jahre alt. Der Architekt hat das Grundstück es ist ein abschüssiges Wiesenstück ausgehöhlt und einen Sitzplatz angelegt. Der hält auch bei vierzig Grad.

31 Ihre tägliche Kraulstrecke: Wo führt die lang? Können Sie die bitte genau beschreiben?
Aber ganz genau. Da lacht meine Familie drüber. Alle in meiner Familie schwimmen gerade hinaus. Ich schwimme ein Stück hinaus, dann biege ich ab. Ich will immer sehen, wie weit ich heute komme: Aha, jetzt bin ich bei der Birke, jetzt am Bootssteg des Zahnarztes, jetzt an der Bucht des Strandbads. Und so weiter. Ich schwimme entlang. Ich brauche meine vierzig Minuten und die Sicherheit, dass ich nicht weniger geschwommen bin.

32 Wie geht Windlauschen?
Nicht meine Sprache. Vielleicht belauschen. Aber lauschen?

33 Ihr nächster Flughafen?
Friedrichshafen. Gott sei Dank.

34 Wie hoch ist der Ausländeranteil in Ihrem Nußdorf bei Überlingen?
In Nußdorf gibt es nur Nußdorfer. Die wohnen da seit längerem oder seit kürzerem. Das heißt: Wer da wohnt, gehört dazu.

35 Ich nenne Ihnen Vorurteile. Sie sagen: stimmt leider. Oder ergreifen die Gelegenheit und räumen es aus. Walser hat einen Schäferhund.
Nie gehabt. Wir haben nun den fünften Hund. Bruno. Einen Appenzeller.

36 Abends liest Walser Nietzsche.
Das ist wohl wahr.

37 Walser war noch nie in Amerika.
Das kann man nicht sagen, da ich insgesamt etwa zwei Jahre in den Staaten verbracht habe.

38 Ihr Freeway in Kalifornien?
Number One. Moment ich meine die Küstenstrecke, nicht die fünfspurige Bahn. Ich bin sie von unten her gefahren, von Los Angeles nach Santa Barbara. Und von oben her, San Francisco, Santa Cruz, Monterey. Dann sitzen Walser und seine Familie in einem Pontiac Catalina Convertible, kein Mietwagen, sondern ein Wagen, den ich gekauft 600 Dollar und selbst aufgerüstet habe für die große Fahrt. Oder es ist ein Ford Mercury Marquis. Oder ein billiger Volvo. Das schlechteste Auto war ein Chrysler. Das beste dann doch der Ford.

39 Welches Gesprächsthema schneiden Sie als Mann von Welt und Tischherr von Barbra Streisand an?
Da nehme ich, wenn ich mir eine andere aussuchen darf, die Mae West. Die lebt bloß leider nicht mehr. Ich hätte sie angehimmelt. Dann hätte ich sie gefragt, ob sie meine Art der Anhimmelung gewohnt sei. Oder ob ich ihr habe etwas Neues bieten können.

40 Vielleicht noch einen Beweis dafür, dass Sie ein Mann von Welt sind?
So verstellen kann ich mich nicht. Ja, Entschuldigung. Jemand, der reisend so wenig lernt und so viele Fehler macht – zwar nicht die gleichen, sondern immer neue Fehler – , der kann sich selbst nicht als Mann von Welt bezeichnen. Reisen bleibt abenteuerlich wie zu Kolumbus' Zeiten.

41 Wie übersetzen Sie den Werbespruch der deutschen Parfümeriekette Douglas »Come in and find out?«
Das übersetzt man doch nicht. Das empfindet man.

42 Wie – um Himmels willen! – übersetzen Sie »United we stand?«
Das überlasse ich Ihnen.

43 Traumberuf Schriftsteller?
Traumberuf? Das ist so ein Teenagerwort, ein Wort für Kinder, die noch nicht wissen, was sie werden wollen und sich dann etwas ausmalen, ein Märchen, das dann doch nie wahr wird. Das war nie mein Fall. Ich wusste von Anfang an, ich mache nichts lieber als schreiben. Angesichts meiner Angewiesenheit auf die Schreiberei ist Traumberuf ein Wort aus der Parfümerieschublade.

44 Traurig darüber, dass Walser-Kenner meistens doch nur Ihr Fliehendes Pferd gelesen haben?
Aber nein. Das ist Schullektüre. Wenn sich seit 1957 jedes Jahr tausend bis zweitausend Leser für die Ehen in Philippsburg entscheiden, das reicht mir.

45 Inwiefern hat es Ihren Stil beeinflusst, dass die Wände in Ihrem Arbeitszimmer schräg sind?
Aha. Ja. Interessant. Ich habe zwar auch zwischen geraden Wänden geschrieben, 18 Jahre lang in einem Arbeitszimmer im Parterre. Aber ich muss sagen: Als ich dann in das selbst gebaute Holznest mit schrägen Wänden gekommen war etwa um 1986, seit Brandung, seither kann ich lang und ausgiebig genussvoll zur Decke schauen. Die rötlichen Fichtenbretter schauen mich aus großen Astaugen an.

46 Pflanzen auf dem Schreibtisch?
Nein. Gottes willen.

47 Lüften Sie auch genug?
Die Türe, die zu etwas hinausgeht, was weder ein Balkon ist noch eine Loggia wie soll ich es nennen? Die ist jedenfalls dauernd offen.

48 Ihr Ernst, dass Ihre Frau Ihre Manuskripte in den Computer tippt?
Wieso mein Ernst? Es kann sich doch nicht um einen Spaß handeln. Bis jetzt hat sie erfolgreich so getan, als freue sie diese Arbeit.

49 Zitat: »Durch Schreiben kann man das Denken verlangsamen.« Ja, ist das Ihr Problem, dass Sie sonst immer zu schnell denken?
Denken was innen andauernd weitergeht und spurlos bleibt, wenn man es nicht bremst, zum Beispiel durch Schreiben. Ich bin nicht Descartes, der sagt: Ich denke, also bin ich. Bei mir steht: Wenn ich meine Mütze aufsetze, bin ich, denkt Meßmer.

50 Einverstanden, dass Sie auf eine Art hüftsteif schreiben?
Hüftsteif! Aha. Ich nehme das Wort dankbar an, weil ich schon öfter Leute gesehen habe, die ich mit diesem Wort hätte beschreiben können, wo mir aber nichts Geeignetes eingefallen ist. Vielen Dank.

51 Ihre beste Sexszene?
Die Einschränkung durch Ihr Wort »Sexszene« macht es mir schwer, in mir zu suchen. Ich würde »Liebesszene« sagen. Weil die Liebe der genauere Ausdruck ist. Sex ist Vokabular. Liebe ist Sprache.

52 Welche Ihrer Fantasien hat sich zur literarischen Verwertung zuletzt als unbrauchbar herausgestellt?
Die Vorstellung, ein Gefangener zu sein. Noch hoffe ich.

53 Warum liegt Ihr Anselm Kristlein in drei Romananfängen im Bett?
Jede Figur muss erst aufstehen, bevor sie eine Romanfigur werden kann. Oder?

54 »Wie schön wäre es, wenn man sich allem anpassen könnte. Auf nichts Eigenem bestehen. Nichts Bestimmtes sein. Das wäre Harmonie...« Ende Zitat zwei. Ja, Scheiße! Warum gelingt das nicht?
Harmonie da machst du doch den Mund nicht mehr auf!

55 Welches kollektive Schockerlebnis Ihrer Generation hat die manische Verwendung der Floskel »nicht wahr« ausgelöst?
Zu mir gehört das nicht. Bei meinem Verleger Siegfried Unseld hieß es »Nicht wahr nicht«. Lassen Sie in einem Roman eine Figur »nicht wahr nicht« sagen, weiß jeder, wer gemeint ist.

56 Sehen Sie sich in der durchaus ehrenvollen Tradition von Goethe, Thomas Mann, Dieter Bohlen als Skandalautor?
Wenn Sie Thomas Mann weglassen, ja.

57 Was sagen Sie zur angeblichen Geisteskrankheit des ehemaligen Zeit-Feuilletonisten Fritz J. Raddatz?
Nichts, was ich nicht von mir selbst kenne.

58 Eine unikale Fähigkeit Ihres verstorbenen Verlegers Unseld?
Das Vertrauen auf seinen Instinkt.

59 Wie sah das Glas aus, das Sie Reich-Ranicki zum Geburtstag geschenkt haben? Wann war das?
Das war 1912 oder 1913. Ein einfaches Biedermeier-Glas. Im Glas steckte ein Gedicht auf einer Papyrusrolle. Ich schreibe für alle Geburtstage, zu denen ich nicht ganz freiwillig gehe, Vierzeiler.

60 Mussten Sie auch so über das neue Sexbuch vom Grass lachen?
Ich habe die Zeichnungen im Fernsehen gesehen. Die waren nicht so innig grassisch wie seine anderen Tierchen, die Raben und Kröten.

61 Welche sportliche Erklärung halten Sie auf die Frage parat, warum Grass den Nobelpreis bekommen hat und, verdammt noch mal, nicht Sie?
Sportlich gesagt, ich war immer, ohne es zu wollen oder zu wissen, zentrifugal, statt zentripetal. Noch sportlicher: exzentrisch statt konzentrisch.

62 Ihre letzte Straftat?
Nachprüfendes Anschauen der Videokassette mit der Paulskirchen-Veranstaltung. Dabei Frank Schirrmacher ziemlich gut gefunden.

63 Grundsätzlich, wie steht's um Ihr Verhältnis zur deutschen Polizei?
Bestens. Der Polizeimeister von Friedrichshafen heißt Walser. Alle Walsers sind miteinander verwandt. Das liegt daran, dass wir keine Familie sind, sondern ein Stamm. Leute wie wir heißen Bayer, Hesse, Walser. Na ja.

64 Wann zuletzt zugeschlagen?
Wie geschildert. Eben nicht geschlagen. Es sind immer Ausnahmesituationen. Aus denen ich mich dann so befreien will. Und es nicht tue.

65 Wie begehen Sie die Morde, die Sie im Traum begehen?
Im Traum sind die Morde immer schon vorbei. Und ich muss fürchten, dass man mir draufkommt.

66 Kennen Sie das, wenn einen die Supermarktkassiererin, die da sitzt und abkassiert – plötzlich! – fast irre macht vor Wut?
Ich kann Supermarktkassiererinnen gar nicht lange genug anschauen.

67 Aus dem Vokabular Ihrer Paulskirchen-Rede: Welcher Meinungssoldat im Stadtkreis Überlingen hat Sie mit vorgehaltener Moralpistole zum Meinungsdienst genötigt?
Fehlformulierung meinerseits: Meinungssoldaten gibt es gar nicht. Nur Meinungsoffiziere, und die frühestens ab Stuttgart oder München.

68 Beim Anblick welches Gebäudes in Nußdorf wurde Ihnen um 1988 klar, dass Sie sich mit der deutschen Teilung nicht abfinden werden?
Durch nichts in Nußdorf. Durch Besuche in Leipzig, Dresden und Ostberlin.

69 Wie geht's Ihrem Stuttgart-Leipzig-Gefühl?
Ein Quell unausschöpflicher Freude, heute an Magdeburg vorbeizufahren. Die Seele lächelt. Man sieht es mir hoffentlich nicht an.

70 Ein deutsches Volkslied, in dem alles – alles! – steckt?
Im schönsten Wiesengrund steht meiner Heimat Haus...

71 Ihr Ernst, dass Sie sich für die Kelten interessieren?
Ja, sehr. Die Kelten sind unsere Indianer. In Amerika haben die Flüsse indianische Namen, bei uns keltische.

72 Große Frage: Warum dreht uns der Wanderer auf Caspar David Friedrichs Bild den Rücken zu?
Damit sich da jeder sein Gesicht selbst schafft. Ich kann ihm meine Stimmung geben. Zeige ich das Gesicht, zeichne ich eine Stimmung vor.

73 Was ist deutscher als eine Wand voller Aktenordner?
Eine Wand voller Aktenordner ist überhaupt keine Nationalität. Das ist Funktion.

74 Welches Wort mussten Sie extra für Deutschland erfinden?
Keines. Ich musste ein paar Wörter entbehren lernen.

75 Ihr aktueller Lieblings-Siegfried? Noch immer Boris Becker?
Mein Erscheinungs-Heros! Das war einmal der Boris. Er ist es absolut nicht mehr. Die Stelle ist momentan unbesetzt.

76 Warum Deutschland und nicht die Schweiz?
Ein fataler Irrtum der Geschichte, den ich allein nicht korrigieren kann: damals, als die Walsers aus dem Wallis nach Norden kamen.

77 Manchmal Lust auf einen deutschen Kaiser?
Nein. Aber Lust auf genauere Kenntnis der deutschen Kaiser. Das Buch Ereignisse und Gestalten von Wilhelm II in der Originalausgabe von 1922 habe ich aus Versehen gleich zweimal gekauft. Kluges Buch. Kluger Kopf. Das habe ich auch nicht geglaubt! Ich war ja genauso borniert wie Sie! Eine Ausgabe, das darf ich sagen, habe ich meinem Enkel Jakob geschenkt. Der nimmt sie gerade mit nach Bolivien.

78 Weshalb ist 1790 bis 1800 noch mal Ihr Lieblingsjahrzehnt?
Da haben deutsche Geistesmenschen sich die Revolution, die hier nicht war, erschrieben. Unverabredet. Lauter Vulkanausbrüche. Eine nie mehr erkaltende Lava.

79 Ihr Bild einer Revolution, die am besten noch dieses Jahr, im November 2003, in Deutschland losbricht?
Aus der Geschichte lernen, diesmal also lieber erst im Dezember, am liebsten am 31., dass das Feuerwerk einen hübschen Unsinn hat.

80 Moment mal: Hing Ihnen Auschwitz nicht schon 1965 zum Hals raus?
Ich war im Auschwitzprozess, habe dann, 1964, ein Stück aufgeführt: Der Schwarze Schwan. Väter, die ihre Schuld den Kindern überlassen. Und 1965 erschien mein Aufsatz: Unser Auschwitz.

Stopp. Eine These, ihn betreffend: Einer wie er hat die monströse Schuld der Generation, die Hitler gewählt hat in einer Art intellektuellem Manöver zu seiner persönlichen Angelegenheit, zur eigenen Schuld erklärt, verwandelt. Damit er geradesteht vor den Opfern. Damit er stellvertretend für die, die keine Regung zeigen Schuld empfindet, tragen und erklären lernt, um sich und der Elterngeneration vielleicht eines Tages zu vergeben. Das muss man sich mal vorstellen! Dieser Prozess setzte offensichtlich nicht unmittelbar nach Kriegsende, sondern ab 1963, mit den Auschwitzprozessen, ein. 1965: Unser Auschwitz. Das Kopfmanöver war die programmierte emotionale Überforderung. Es konnte nicht hinhauen. Unterstellung: Für ihn, Walser, waren es bis zu seiner öffentlichen Reinwaschung bei der Paulskirchen-Rede 1998 immer auch qualvolle Jahre. Er ist eher kein Intellektueller. Mehr ein Emotionstier, das im Resonanzraum des Literaturbetriebs seinen zu privaten Nöten zu lautstark Gehör verschafft. Wenn Walser das »zwanghafte Erinnern« und die »Moralkeule Auschwitz« geißelt, dann sagt das wenig über eine angebliche Stimmung im Land aber einiges über die Widersprüche einer anspruchsvollen, verwickelten, für seine Generation spezifischen Biografie: seiner Biografie. Ist das eine zu gewagte, schlimmer noch, schon bekannte These? Das wären so meine Gedanken. Doch eindeutig, oder? Man fragt sich: Warum sehen das nicht alle so? Weiter.

81 Wie heißt Auschwitz noch mal auf Polnisch?
Oswiecim.

82 Mit den Jahren: Wird der Anteil an Auschwitz, den Sie als Ihren bezeichnen, größer oder kleiner?
Ich habe einmal geschrieben, das war 1979: Seit Auschwitz ist noch kein Tag vergangen. Das könnte ich immer wieder schreiben. Es ist lächerlich, mir vorzuwerfen, ich wolle damit Schluss machen. Alle diese Diskussionen sind lächerlich lächerlich! angesichts dessen, wovon sie handeln.

Schade. Jetzt verstehe ich Sie nicht.
Es handelt sich um Auschwitz, und wir reden drum herum: Hast du den richtigen Wortgebrauch? Bist du der richtige Gedenker? Es ist doch ein lächerliches Gezerre! Angesichts dessen, was da wirklich passiert ist.

83 Sollten sich die Deutschen – wie Weihnachten oder den Tag der Deutschen Einheit – jedes Jahr einen Hitler-freien Tag nehmen?
Das müssen Sie Joachim Fest fragen.

84 In Umrissen: Wie sähe Ihre Holocaust-Gedenkstätte aus?
Ignatz Bubis hat gesagt, er brauche die Gedenkstätte nicht. Das darf ich auch sagen. Offenbar gibt es genügend Leute, die eine Gedenkstätte brauchen. Oder sie glauben, andere brauchen eine. Das ist der Unterschied: Ich kann, wenn es um unsere Vergangenheit geht, immer nur für mich entscheiden, fühlen, handeln. Ich kann mein Gewissen nicht an Lea Rosh delegieren, dass sie es in ein Mahnmal einbauen lässt.

85 Welches Organ schmerzt, wenn Sie das Wort »Auschwitz« hören?
Tatsächlich halte ich die Seele für ein Organ. Und wenn Auschwitz auf etwas lastet, dann auf der Seele.

86 Stopp. Unterbrechung. Wir haben hier einige Kategorien. Sie schätzen bitte Ihre Fähigkeiten ein auf einer Skala von null Punkten (minimales) bis zehn Punkten (maximales Talent). Cowboy.
Was ist? Welches Spiel?
Jetzt ist die Frage, wie viele Punkte Sie sich als Cowboy geben.
Ich bin »appointed Cowboy of Texas«! Ich trage diesen Titel. Warum? Ich ritt auf einem gebirgigen Pfad. Das Pferd scheute. Da hatte ich Angst um meine Tochter, fuhr herum, rief: Theresia!
Er brüllt: Theresia! Scheuende Pferde!
Da scheute das Pferd erst recht und warf mich ab. Ich überschlug mich, den Hang hinunter, ohne mich dabei zu verletzen. Der Texaner sagte: Nun bist du appointed Cowboy of Texas. Wenn man das schafft: Salto vom Pferd, ohne sich zu verletzen.

87 Goethe.
Goethe! Kommt jetzt noch Robert Walser? Oder James Last? Wenn ich wüsste, wer noch kommt, dann könnte ich mich besser verteilen. Im Genre von James Last habe ich mich ja getümmelt. Da gebe ich mir eine Sieben. Ich habe gesungen und Klavier gespielt, nie professionell, eher bescheiden, im kleinen Kreis, von Wasserburg bis Regensburg. Ich wollte Sänger werden. Ich hatte eine gute Stimme habe ich geglaubt! Also, noch mal: Goethe. Da punkte ich lieber nicht.

88 Alt-68er.
Null.

89 Snob.
Nullnull.

90 Wann zuletzt geheult?

Heute Vormittag. Da steht mir das Wasser hinter den Augen. Selbst verschuldet.

91 Was rät Ihr Arzt?
Bei jedem Leiden, mit dem ich ihm komme, sagt er: Toll! Das spricht für Sie! Für Ihr Herz, Ihre Vitalität, Ihr Immunsystem. Ich kann ihm kein Leid präsentieren, das für eine Krankheit spricht.

92 Man traut es sich ja kaum zu fragen trotzdem: Sind Sie nun endlich, endlich auch ein Verfolgter?
Dazu eigne ich mich nicht. Wenn Sie das meinen, von dem ich glaube, dass Sie es meinen, dann würde ich mich als einen Beschimpften bezeichnen. Lassen mich diese Leute da abends nicht vorlesen!

93 Walser, Entenfütterer?
Da bin ich jetzt dagegen, dass man das tut. Ich spreche von Enten und Schwänen. Die Schwäne sind aus dem See und den Hang zu uns herauf gekommen und haben mit langen Hälsen und den Schnäbeln gegen die Scheiben gepocht. Weil man einen Tag zu spät gefüttert hat! Da muss man sich vorsehen!
Böse Schwäne. Lieber Walser. Er hat sogar vor Enten Angst. Der Walser.

94 Wer passt gerade auf den Hund auf?
Die Tochter. Johanna.

95 Sind Ihre Augenbrauen auch deshalb so struppig, weil Sie sich immer so stark aufregen müssen?
In Studios und Vorlesesälen kommt immer so starkes Licht von oben. Ohne starke Brauen bist du geblendet. Was mir da wächst, ist mein Beitrag zur Evolution.

96 Immer noch verliebt in Maybrit Illner vom ZDF?
Das hält sich erstaunlich. Meine Verehrung. Nicht unsere Beziehung, so etwas haben wir ja nicht. Immer, wenn ich hinschaue, denke ich: tolle Frau. Sie hat etwas, das im Fernsehen selten ist Ironie. Sie selbst betreffend. In ihren deutlichsten Gesten.

97 Immer noch Angst davor, eines Morgens als »ungeheures Ungeziefer« aufzuwachen?
Nein, das ist ja schon beschrieben.

98 Zurückblickend: Hatten Sie immer bisschen zu viel Angst?
Deswegen bin ich Leser geworden. Karl-May-Leser. Ich habe gesehen, dort hat man auch Angst. Aber man wird gerettet.

Jetzt schauen wir in seinen Hut: altes Spielchen. Passt immer. Da steht: »Borsalino. Made in Italy.« Er, ihn aufsetzend – er muss zum Zug: »Alles, was schön ist, kommt aus Italien.« Zum Abschied boxt er einem auf die Schulter: bumm! Eine gerade Rechte. Man ist sich näher gekommen. Es war – gut. Angst haben gilt nicht. Es gilt: Spre-chen geht immer, während Sich-Prügeln fast nie notwendig ist. Auf Wiederschaun! Danke für Zeit, Humor und Ihre Offenheit! Es ist, liebe Leserin, lieber Leser, ja diesmal unmöglich, ihn misszuverstehen. Verstanden? Versprochen?

99 Froh, dass es jetzt wieder öfter regnet?
Wie alle Flüsse empfange ich das gern.

100 Warum liegt Ihnen auf Pressefotos immer ein Trenchcoat über der linken Schulter?
Ein einziges Foto! Meßmer sagt: Nichts, was mir wichtig ist, ist links oder rechts.

Dieses Interview erschien im Oktober 2003.