Vor einigen Wochen, in Saarbrücken, stöberte ich in einem Buchladen herum und entdeckte eine Ausgabe der Gedichte von Robert Frost, dem großen amerikanischen Autor. Nun lese ich fast jeden Abend ein bisschen darin, Stopping by Woods on a Snowy Evening zum Beispiel, Rast am Wald an einem verschneiten Abend, in dem jemand mit dem Pferdeschlitten einen im Schnee versinkenden Forst durchquert, plötzlich anhält (das Pferdchen wundert sich), die liebliche, sanfte Stimmung genießend – und am Schluss stehen die berühmten Zeilen:
The woods are lovely, dark, and deep,
But I have promises to keep,
And miles to go before I sleep,
And miles to go before I sleep.
Dieses Und Meilen gehn, bevor ich schlaf zitierte John F. Kennedy oft am Ende seiner Wahlkampfreden, und 1961 bat er Frost, nach seiner Vereidigung als Präsident ein Gedicht vorzutragen. Der damals 87-Jährige schrieb extra ein neues, über Nacht, doch konnte er es im grellen Sonnenlicht bei der Inaugurationsfeier nicht lesen und trug stattdessen aus dem Gedächtnis ein anderes vor: ein ebenso heiterer wie ergreifender Moment, tröstlich auch in den Schlammschlachten der vergangenen Monate dieses Jahres: Das gab es mal, dass Poesie und Politik so nahe beieinander waren!
Übrigens hat Barack Obama vor einem Jahr seine Lieblingsschriftstellerin zum Gespräch eingeladen. In der Staatsbibliothek von Iowa interviewte (!) er (!) vor Publikum Marilynne Robinson, die in Deutschland eher unbekannt ist, in den USA aber nicht. Sie erhielt, zum Beispiel, für den Roman Gilead 2005 den Pulitzer-Preis. Obama hatte das Werk, als er Präsidentschaftskandidat war, in einem Buchladen stöbernd entdeckt – ja, das gab es, dass Präsidentschaftskandidaten Bücher in Buchläden stöbernd entdeckten! Und dass sie die lesen und sich als Präsidenten darüber unterhalten!
Man wird das vermissen, nun, da einer gewählt worden ist, der vermutlich nicht einmal sein eigenes Buch The Art of the Deal gelesen hat. Und nicht nur das. Lassen wir alles Politische beiseite, dann ist es ja vor allem eine menschliche Haltung, die man mit Barack Obama verbindet und natürlich auch mit seiner Frau, die das selbst in ihrer legendären Rede wider Donald Trump am besten formulierte: Es gehe um the basic standards of human decency, die grundlegenden Regeln menschlichen Anstands, die von den Obamas nie touchiert worden sind. Oder kann sich jemand an einen Skandal in dieser Präsidentschaft erinnern, etwas, das auch nur von Ferne an die von den eigenen Undiszipliniertheiten gelähmte und vergeudete Energie der Clinton-Jahre erinnerte, vom Trump-Dreck zu schweigen? An irgendeine Verletzung der Werte von Höflichkeit, Menschlichkeit und Würde? Ging es nicht im Wesentlichen immer darum, den eigenen, früh formulierten politischen Idealen zu folgen?
Und diese Lässigkeit wird einem abgehen, der schlackernd-entspannte Gang, das kleine Basketballspiel mit Krawatte um den Hals, währenddessen er leichthin plaudernd fast jeden Ball aus der Distanz im Korb versenkt, die (vielleicht auch nur gespielte) Wärme, mit der er einem kleinen Jungen auf die Frage antwortet: Why do people hate you? Ach, weißt du, sagt er, ich bin immerhin gewählt, also nicht alle hassen mich, und außerdem bin ich ein ziemlich harter Junge, du solltest das alles nicht so ernst nehmen. Die Entschlossenheit, mit der er während eines Fernsehinterviews nebenbei eine Fliege ums Leben bringt – jeder, der das mal versucht hat, weiß, wie schwer es ist! Die Selbstironie, mit der er in den Wochen vor der Abstimmung mit dem Argument für die Briefwahl warb, er sei immer früh dran, grundsätzlich fünf Minuten vor jedem Termin an Ort und Stelle, denn wer zu einem Einer-gegen-einen-Spiel 45 Minuten früher komme, der spiele erst mal Einer-gegen-keinen und habe schon fast gewonnen.
Miles and miles and miles to go, bevor so einer wiederauftaucht, am besten er selbst, in vier Jahren, an der Seite von Michelle, bitte.