Vor einigen Wochen saß ich mittags in einem Restaurant in Dresden, ich war der einzige Gast. Da betraten zwei ältere Herren das Lokal, bequem gekleidet, laut sich unterhaltend. Sie nahmen drei Tische weiter Platz und erfüllten den Raum mit ihrem Gespräch, behaglich und selbstzufrieden. Nach kurzer Zeit waren sie bei der Politik.
Da habe man 1990 gedacht, sagte der eine, man komme in ein gut funktionierendes Land, endlich klappe mal alles. »Und wo sind wir? Eine Bananenrepublik. Schulz, der Hoffnungsträger! Zwei Mal sitzengeblieben. Alkoholiker.«
So ging das weiter. Dann bestellten beide Steaks, medium.
Ich zahlte und ging. Aber mich überfielen ein Zorn und ein Ekel. Erstens ging es doch 1990 nicht bloß darum, Teil eines gut funktionierenden Landes zu werden, es ging um Einigkeit und Recht und Freiheit. Zweitens ist Thomas Mann drei Mal sitzen geblieben, Peer Steinbrück zwei Mal, und Albert Einstein hat mit 15 die Schule abgebrochen. Drittens: Wie weit muss man von jeder Wirklichkeit entfernt sein, um unser Land für eine Bananenrepublik zu halten? Welche Ansprüche an das Leben muss man haben, wenn man als einfacher Bürger an einem Wochentag mittags in einem Lokal sitzen kann, die Steaks medium bestellt, draußen scheint die Sonne, unbewaffnete Fußgänger warten vor einer leeren Straße auf das Grün ihrer Ampel, nirgends stirbt jemand vor Hunger, und am Bahnhof fahren die Züge pünktlich? (Gut, nicht jeden Tag, aber an diesem doch, ich weiß es.) Und dann so zu reden!
Zwei alte Männer in Dresden: Die könnten mir egal sein. Ich weiß nichts über sie, nur diese paar Sätze habe ich gehört, aber man hört sie auch anderswo: das banale Geschimpfe von Leuten, die satt sind und unzufrieden; die nichts wissen von der Welt und alles zu wissen glauben.
Entschuldigung, mir geht gerade der Gaul durch, und ich habe keine Lust, ihn zu zügeln. Das wird man ja noch sagen dürfen, dass ein bisschen Respekt angebracht ist vor diesem Staat, in dem die Deutschen so gut, zivilisiert, sicher leben wie nie in ihrer Geschichte. Man kann auch ein wenig Achtung vor jenen verlangen, die dessen Ämter bekleiden!
In letzter Zeit ist viel von Eliten-Verachtung die Rede, von der entsetzlichen Dummheit »der Politiker« und ihrem Nichtskönnertum. Andererseits fragt man sich, wie es möglich ist, dass wir in Wohlstand und Frieden leben, wenn wir ausschließlich von abgehobenen Versagern regiert würden. Zweitens: Ich möchte, bitte schön, von Eliten regiert werden! Wenn ich ein künstliches Knie benötige, suche ich nach dem kompetentesten Chirurgen. Braucht mein Auto eine Reparatur, wende ich mich an eine Fachwerkstatt. Möchte ich ein Haus bauen, verwende ich Mühe darauf, einen fähigen Architekten zu finden. Warum sollte das in der Politik anders sein? Ich will Politiker mit Kenntnissen, über die Richtung will ich mitentscheiden.
Lebte ich in einem Staat, in dem ich nur noch als Ehefrau eines ehemaligen Präsidenten oder als Sohn aus reichem Hause überhaupt eine Chance auf ein Spitzenamt hätte, könnte man also ohne erhebliches Vermögen im Kreuz in der Politik kaum noch eine Rolle spielen, würde ich mir Gedanken machen: dann also, wenn es nicht mehr die geringste Möglichkeit für den einfachen Bürger gäbe, in die politische Elite des Landes vorzustoßen.
Aber unsere drei letzten Kanzler sind Kinder des Finanzbeamten Hans Kohl, des Gelegenheitsarbeiters Fritz Schröder beziehungsweise des Pfarrers Horst Kasner.
Nun möchte einer namens Schulz das Land regieren, Sohn eines Polizeibeamten im mittleren Dienst, Schulabbrecher, Arbeitsloser, eine Weile der Trunksucht verfallen, Buchhändler, Bürgermeister – dann jahrzehntelang Abgeordneter im Europäischen Parlament, sogar dessen Präsident, mehrsprachig, belesen, gebildet. Keine Ahnung jetzt, ob ich ihn wähle, keine Ahnung, ob ich ihn nicht wähle, aber ich halte das alles für eine ausgezeichnete Qualifikation für höchste Ämter.
Illustration: Dirk Schmidt; Foto: dpa