Das Beste aus aller Welt

Der Verzehr von Orangen, meldet The Grocer, das Magazin der britischen Einzelhändler, sei um zwei Prozent zurückgegangen, das dritte Jahr in Folge, in dem weniger Orangen gegessen würden. Jeder von uns kann errechnen, dass – setzt sich der Trend fort – in Jahrzehnten die Menschen Orangen anstarren werden wie etwas äußerst Fremdes. Wenn man ihnen sagt, dies sei die Frucht, aus der »O-Saft« gemacht werde, werden sie lachen und rufen, jeder wisse, dass »O-Saft« aus O’s herausgepresst werde, die nach dem Pressen wie 0’s oder o’s aussehen. Fragt man sie darauf, was sie glaubten, woher H-Milch komme, werden sie sagen, nun ja, H-Milch, also, stotter, H-Milch sei eben da, sie komme nirgendwoher oder aus der Milchfabrik oder aus der Stadt H.

Niemand wird wissen, woher die Dinge kommen, aber darum geht es hier nicht. Es geht darum, dass die Orange zu umständlich für unsere Zeit ist, eine Frucht von gestern. Die Menschen haben immer weniger Zeit und (wenn überhaupt) immer kürzere Mittagspausen. Sie wollen mehrere Dinge gleichzeitig tun. Was sie essen, soll man mit einer Hand halten können, damit man mit der anderen Hand ein Memorandum schreiben, seine Geliebte streicheln oder ein Auto lenken kann. Das geht mit Orangen nicht, man muss sie schälen und auseinanderklauben, dann sind die Hände voller Saft und kleben. Das möchte der moderne Mensch nicht, er will alles am liebsten trinken, da entfällt auch das Kauen. Interessanterweise haben gerade jetzt französische Wissenschaftler einen künstlichen Mund entwickelt. Und aus den Werkstätten einer deutsch-spanischen Forschergruppe kommt eine Kunstzunge, die aus jedem Wein Rebsorte und Jahrgang herausschmeckt. Bei dem Mund bewegt sich ein Stempel mit gezackten Metallspitzen über einem rotie renden Unterkiefer auf und ab; dazu wird künstlicher Speichel eingespeist. Man will den Maschinenmund einsetzen, um die erste Stufe der Verdauung simulieren und besser untersuchen zu können. Aber ich sehe das Ding schon in Kantinen, wo Menschen Gerichte (oder Orangen?) vorkauen lassen, damit sie ihre Naturmünder für Besprechungen nutzen können. Und die Laborzunge werden sich ignorante Grobschmecker einsetzen lassen, um andere am Tisch mit Kenntnissen zu beeindrucken.

Nun haben wir bei den Olympischen Spielen die Fähigkeiten einer Reihe von Maschinenmenschen bestaunt, bei denen man das Gefühl hatte, sie seien von Forschern für bestimmte Disziplinen gefertigt worden: Sprint, Schwimmen, Radeln… Wann wird der erste Mensch mit einer künstlichen Achillessehne antreten? Wie lange wird es dauern, bis dem Sportler von Rang Fabrikmuskeln eingesetzt werden? Und könnte man nicht Schwimmern eine Hai-Haut und ein paar schöne Kiemen anzüchten, sodass sie das Wasser nie wieder verlassen müssten, sondern es immerzu blitz schnell durchmessen könn ten, sich dabei von langsameren Kraulern ernährend?

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Vielleicht wäre es ein Gedanke, zwischen den Olympischen Spielen und den Paralympics ein drittes Sportfest einzuführen, Normalympics oder Moralympics sozu sagen. Dort könnten garantiert Ungedopte starten, während man bei Olympia alles erlaubte, von mir aus auch den Düsenantrieb beim Hundert-Meter-Lauf und den Propellerhub beim Hochsprung. Aber: Würden wir wirklich nur bei den Normalspielen zuschauen, vorm Fernseher geruhsam Orangen schälend? Oder nicht doch zu den Freaks schalten, zum Hundert-Meter-Lauf, nur für zehn Sekunden? (Oder fünf?)

Es soll Leute geben, die sich heuer fest vorgenommen hatten, Olympia komplett zu ignorieren – und trotzdem vor dem Apparat saßen, vom schlechten Gewissen zernagt, aber hochinteressiert. Man ist eben hin und wieder den eigenen Ansprüchen nicht gewachsen. Und ist dies nicht der Sinn des Dopingverbots: die Sportler vor unserer Sensationsgier und unserem Leistungswahn zu schützen? Und damit uns selbst auch Grenzen zu setzen?

Herr B. aus München schrieb mir, eine Freundin habe ihm in einer Mail aus dem Urlaub am Meer mitgeteilt, gerade sei sie »erfischt den Fluten entstiegen«. Ich dachte an Phelps, den menschlichen Hai: Der steigt schon erfischt in die Fluten hinein.

Illustration: Dirk Schmidt