Nun sind bald Wahlen, und ich bin kein Mensch, der sich gut entscheiden kann. Wenn ich zum Beispiel in einen Eis-Salon komme und vor den Blechnäpfen mit den unterschiedlichsten Eis-Sorten stehe, nehme ich meistens Malaga. Malaga ist meine Lieblings-Eissorte, ich mag sie seit sehr langer Zeit. Genau erinnere ich mich an den Moment, in dem ich das erste Malaga-Eis zu mir nahm, wir standen bei »Coletti« in meiner Heimatstadt, ich war ratlos, und der Freund, der neben mir stand, sagte, ich solle Malaga probieren, ob ich Malaga nicht kenne, es sei großartig.
Ich folgte ihm und schmeckte: Vanille, Malaga-Wein, Rosinen. Ich hatte das noch nie geschmeckt, ich wusste nicht, dass so etwas existierte.
Ich kannte Capri-Eis, das gab es in der Kantine der Schrebergartenkolonie bei uns nebenan. Dort herrschte in einer schummrigen Baracke ein Mann namens Kowalsky, vor dessen Tresen ich als Kind oft fünf, zehn Minuten verharren musste, während der glatzköpfige Patron mit fetten Händen Pils zapfte, bis er sein ausdrucksloses Krötengesicht mir zuwandte, meinen Wunsch anhörte und ein Capri aus der Eistruhe hervorwühlte.
Ich kannte auch Fürst Pückler, das der Nachbarssohn einmal auf unserer Terrasse gegessen hatte. Eine Familienpackung Fürst Pückler aß er alleine, biss hinein wie in ein Schulbrot, während ich vor Neid zerschmolz und dachte: Eines Tages möchte ich so reich sein, dass auch ich allein eine Familienpackung Fürst Pückler essen kann.
Bin ich ein langweiliger Mensch, weil ich aus zig Eisvarianten immer Malaga wähle? Nein, ich bin ein Romantiker, ein Mensch voller Sehnsucht. Mein ganzes Leben lang laufe ich diesem ersten Malaga-Moment bei »Coletti« hinterher, wissend, dass er sich nicht wiederholen wird, dass man ihm aber nahe kommen kann, in Italien am ehesten, wo man in entlegenen Dörfern Siziliens ein Malaga-Eis bekommt, ach …Übrigens aß ich dort mal ein so unvergesslich gutes Pistazien-Eis, dass ich nun nie wieder Pistazien-Eis essen werde, unmöglich, irgendwo ein so gutes Pistazien-Eis wie in Sizilien zu bekommen, also lasse ich’s.
Bei Malaga gehe ich das Risiko jedoch immer wieder ein, mit dem Risiko schrecklicher Enttäuschungen, so groß, dass ich schon mal eine Tüte an der nächsten Ecke in den Müll geworfen habe. Es muss schwer sein, gutes Malaga-Eis zu machen. Aber ich verliere den Glauben an die Menschheit nicht, schön, oder? Außerdem können die Leute hinter mir in der Eis-Schlange sicher sein, dass sie nicht lange warten müssen, anders als bei Paola, die sich vor den vielen Sorten vergrübelt, ein, zwei auf einem Löffelchen probiert, um sich doch für eine zu entscheiden, die sie beim Schlecken nicht wirklich gut findet.
Als ich Malaga zum ersten Mal aß, dachte ich: Wie großartig muss die Welt außerhalb meiner Heimat sein, wenn man dort etwas wie Malaga-Eis erfindet! Es ist also, wenn ich Malaga wähle, nicht einfach Sehnsucht nach der Kindheit, die mich bestimmt, sondern der Wunsch, dieses kindliche Gefühl noch einmal nachempfinden zu können: Die Welt
ist weit, du wirst wunderbare Dinge in ihr entdecken.
Im Internet las ich, welche Eis-Sorten es in der Welt gibt: Eis mit Walgeschmack, Knoblauch-Eis, Spaghetti-Bolognese-Eis, Viagra-Eis, unglaublich, sogar Stilton-Käse-Eis, das nach englischem Blauschimmel-Käse schmeckt, in der Welt des Eises, was die Pauli-Partei in der Politik ist: kurz aufsehenerregend, bei näherer Betrachtung unnütz. Ich sage, heute, als Erwachsener: Die Zahl der guten Dinge auf der Welt ist sehr begrenzt, und das meiste, was neu dazu kommt, ist eitler Quatsch.
Übrigens sagt Paola, der erste Satz dieses Textes sei falsch, weil ein Mensch, der vor einer Riesen-Eistheke immer Malaga wähle, keiner sei, der sich schlecht entscheiden könne, im Gegenteil, er sei extrem entschlossen. Da hat sie recht, aber was das mit den Wahlen zu tun, weiß ich auch nicht mehr. Vielleicht gar nichts.
Die Eisdiele Coletti in Braunschweig, in der Axel Hacke sein erstes Malaga-Eis aß, existiert nicht mehr, doch war ihre Bedeutung für Hackes Heimatstadt so groß, dass sie in dem Buch Zwischen Coletti und Capriccio – Die Braunschweiger Jugendszene der 60er (Michael Kuhle Verlag) verewigt wurde.
Dirk Schmidt (Illustration)