Bruno, mein alter Freund, sagt, es habe ihn überrascht, dass so viele Menschen das Buch von Thilo Sarrazin zu Weihnachten verschenkt haben. Man könne ja zu dem Buch sagen, was man wolle, und wahrscheinlich treffe es zu, dass dem Autor oft kaum zu widersprechen sei, alles gut und schön. Aber wenn man zum Kern komme, sei es doch ein unangenehm und unpassend aggressives, im Ton bisweilen menschenfeindliches Buch, das Werk eines Misanthropen und Zahlenfetischisten, der sich mit Menschen selbst offenbar ungern abgebe, nur auf dem Umweg über Statistiken. Und der jedes Buch, das er gelesen habe, in eine Tabelle eintrage und mit einer Schulnote versehe, oh je. Es könne sein, sagt Bruno, dass man das Buch lesen müsse – aber ein Weihnachtsgeschenk? Unter dem Christbaum? Zu diesem Fest, bei dem es doch um Versöhnung gehe, bekomme man einen Text hingelegt, in dem, unter anderem, von der sich selbst reproduzierenden Dummheit der Unterschicht und der Zuwanderer die Rede ist? Das sei doch, zumindest, merkwürdig, oder?
Mein aktuelles Lieblingsbuch heißt Ein Schaf fürs Leben von Maritgen Matter und Anke Faust. Es ist nicht neu, aber die kleine Sophie hat es jetzt erst zu Weihnachten bekommen, und wir lesen es fast jeden Abend. Es handelt von einem Wolf, der ein Schaf fressen will, aber dann ist das Schaf erstens unglaublich naiv-witzig, charmant und nett, und zweitens rettet es dem Wolf auch noch das Leben, sodass am Schluss … Aber bitte, wer bin ich, dass ich das Ende eines Buches verraten werde?
Beim Lesen habe ich mich an zwei Geschichten erinnert, die mich in diesem Jahr besonders beschäftigt haben. Die erste hat der Fußballer Schweinsteiger erzählt, der, so sein Bericht, als junger Spieler am Kabinenplatz nach dem Duschen nie ein Handtuch vorgefunden habe, obwohl eigentlich jeder ein solches am Haken hängen hatte. Dann habe er den sehr viel älteren Torwart Olli Kahn neben sich angeschaut: Der hatte ein Handtuch um die Hüften, mit einem zweiten trocknete er sich die Haare.
Kahn antwortete darauf, so sei das im Fußball, die jungen Leute müssten sich selbst ein Handtuch holen, sie hätten ja beim Training auch die Bälle zu tragen; Schweinsteiger habe auch gesagt, dass er, Kahn, drei Jahre nicht mit ihm geredet habe. »Aber er war ja ein junger Spieler und das muss man sich hart erarbeiten.« So sei das im Fußball, erst die Leistung, dann das Handtuch, dann mal ein Wort und irgendwann sogar ein ganzer Satz.
Warum mich das beschäftigt? Weil es zeigt, wie simpel die Menschen nach Tausenden von Jahren noch funktionieren. Wie Wolfsrudel, nur geduscht und mit Handtüchern.
In der anderen Geschichte geht es um ein kleines Wildschwein im Landkreis Göttingen. Dieses Wildschwein (man nannte es Frederike) hatte seine Mutter verloren, es war allein auf der Welt und schloss sich deshalb im Spätsommer einer Herde Galloway-Rinder an. Nach einigem Zögern akzeptierten die Tiere das kleine Schwein und ließen es bei sich leben, ihre Rinderherzen schlugen höher angesichts der süßen Frederike. Selbst der Zuchtbulle, ein Herr namens Mario, brachte nichts gegen den Neuling vor.
Die kleine Wildsau verhielt sich, um bleiben zu dürfen, von Tag zu Tag mehr wie ein kleines Rind, fraß Gras, trank Milch aus dem Euter einer Kuh und versuchte zu muhen, dies nur mit mäßigem Erfolg. Ein seltsames Galloway-Kalb mit Wildschweinhintergrund. Man hätte zu gerne gewusst, wie das weitergegangen wäre, und was die Macht der Einbildung und des Dazugehörenwollens vermag … Bloß ist Frederike leider vor Wochen an einer Magen-Darm-Entzündung gestorben. Ob man sie zu Rindsrouladen verarbeitet hat, post mortem, wenigstens das?
Gute Vorsätze fürs neue Jahr? Die richtigen Bücher verschenken. Auch zu bösen Wölfen gut sein. Mal ein Handtuch abgeben. Mal mit einem jungen Spieler reden. Im Wildschwein den Nächsten erkennen.