Neuerdings ist oft die Rede vom Wutbürger, den Erregung über öffentliche Zustände auf die Straße treibt. Ich möchte aber darauf hinweisen, dass die größten gesellschaftlichen Wutvorräte nach wie vor nicht in der Politik, sondern im Fußball vorhanden sind. Wäre Wut ein Rohstoff wie Öl, könnte man mit Wut Häuser heizen, wäre jedes Fußballstadion eine Wutmine oder ein Wutkraftwerk. Kürzlich fand in London eine Diskussion über die Sprache des Fußballs statt, zu deren Ergebnissen gehörte, dass die Kinder, die anfangen Fußball zu spielen, oft die Wutausbrüche der Erwachsenen am Spielfeldrand nicht verstehen, weil ihnen die Sprache der Fußballwut (Hau ihn weg!, Zieh ab!) nicht geläufig ist, dass sie sich dadurch also eher am Spiel gehindert fühlen. Erst durch die Testosteron-Einschüsse der Pubertät werden auch sie wutgeschult.
In Deutschland sind große Ausbrüche Trapattonis (Was erlauben Strunz?) und Völlers (Scheiße! Käse!) legendär, aber die weltweit größten Wutguthaben liegen im englischen Newcastle. Die zwei eindrucksvollsten Wutattacken der Welt, Zornesausbrüche von eyjafjallajökullhafter Gewalt stammen von Trainern des Klubs Newcastle United. Zuerst Kevin Keegan, den man sich mit ergrauten Haaren und einem Riesenkopfhörer im britischen Fernsehen vorstellen muss, 1996. Newcastle befand sich im erbitterten Titelkampf mit Manchester United und hatte einen Rückschlag hinnehmen müssen.
Nun beharkte sich Keegan mit einem Interviewer, stieß am Schluss den Zeigefinger vor und rief: »I will love it if we beat them! Love it!« Wobei man sich das o in love wie ein knappes deutsches o vorstellen muss, lowwit. Der ganze englische Fußball steckt in diesen Worten, großartig, betrachten Sie es auf Youtube oder anderswo, aber betrachten Sie es! Nun zu Joe Kinnear, Keegans Nachfolger als Newcastle-Trainer. Der begann 2008 eine Pressekonferenz mit der Frage, wer Simon Bird vom Daily Mirror sei. Der meldete sich. Kinnear, ganz ruhig: »Du bist ein Arschloch!« (Er sagte etwas viel Schlimmeres, aber das können wir hier nicht drucken.) Bird: »Danke.« Kinnear, weiter ruhig: »Welcher ist Hickman?« (Der schrieb für den Daily Express.) »Du bist doch gestört. Absolut verdammt gestört. Ich sag dir, wenn du das noch mal machst, kannst du dich verpissen und sonst wo hingehen. Ich nehm so einen Mist nicht mehr hin, in keinem verdammten Fall, Lügen …«
So geht das weiter, »Bastarde«, »schleimig«, alles in Ruhe, unfassbar, bei uns hätten sich Beleidigungsprozesse angeschlossen, die englischen Journalisten fragten nur zurück, wie lange sein Vertrag noch läuft. Kinnear: »Geht euch gar nichts an!« Ich mag das. Nichts gegen die immer wohltemperierten Jungs wie Philipp Lahm, aber manchmal sind einem Charaktere wie Uli Hoeneß recht, jedenfalls als er eine Hauptversammlung des FC Bayern anschrie: »Es kann nicht sein, dass wir uns jahrelang den Arsch aufreißen und dann so kritisiert werden! Was glaubt ihr eigentlich, wer ihr seid?« Übrigens erstaunlich, wie oft Wüteriche die Wendung »Arsch aufreißen« verwenden, wie reißt man sich selbst den Arsch auf?, und dann sooo weit, »bis zur Hutkrempe«, wie der frühere Trainer von Alemannia Aachen, Krüger, einmal von sich erzählte, ohne dass ihm Verletzungen anzusehen gewesen wären.
Eine Ausnahme ist der einstige Hamburger Coach Doll, der sich den Arsch nicht aufriss, sondern bei einer Pressekonferenz nicht aufhörte zu betonen, er lache sich »den Arsch ab«. Noch was zu Tim Wiese, dem Bremer Torwart. Er sagte, als seine Mannschaft schlecht und schlechter spielte: »Es gibt keine Erklärung für die Scheiße, die wir machen.« Man möchte den verzweifelten Satz an gewissen Tagen als Überschrift über die Menschheitsgeschichte schreiben. Es gibt keine Erklärung …
Andererseits fliegt Wiese bisweilen als lebendes Geschoss in Gesichtshöhe übers Feld, eine rasende Wutkugel. Einmal landete er mit dem Fuß im Gesicht eines Mannes namens Olic, ein anderes Mal rammte er Müller um. Deswegen muss Wiese gerade für drei Wochen aussetzen mit Fußball. Gut so. Wut ja. Aber: keine Gewalt.
Illustration: Dirk Schmidt