Ein Blick auf die Uhr. Zeit läuft. Der Zeiger dreht seine Runden. Was wäre das für ein Gefühl, wenn sich sein Lauf beschleunigen würde, fast unmerklich zunächst, dann deutlich sich steigernd? Ein kontrollierender Blick auf die Uhr am Computer: Auch hier erscheinen jetzt neue Zahlen in schnellerem Rhythmus. Schon fallen Blätter von gerade frischen Tulpen. Rasch ist der eben gebrühte Kaffee kalt.
Was wäre das also für ein Gefühl, wenn die Zeit auf einmal schneller liefe, nicht endlos ihr Tempo steigernd, sondern nur etwas, auf ein höheres Niveau sozusagen, dann dort bleibend, weiter gleichmäßig laufend, bloß zügiger nun? Auf unerklärliche, unverständliche Weise. Gestern dauerte eine Minute sechzig Sekunden, heute noch fünfzig und die sind in sich auch wieder kürzer. Man müsste von alten und neuen Minuten sprechen, wie man früher in Frankreich in alten und neuen Francs rechnete. Eine neue Zeit.
Stefan Zweig hat in Die Welt von Gestern die Zeit seiner Kindheit, seiner Eltern beschrieben, das 19. Jahrhundert, eine Welt der Langsamkeit, Sicherheit, Gesetztheit, Ruhe, Unveränderlichkeit: »Selbst in meiner frühen Kindheit, als mein Vater noch nicht vierzig Jahre alt war, kann ich mich nicht entsinnen, ihn je eine Treppe hastig hinauf- oder hinunterlaufen gesehen zu haben oder überhaupt etwas in sichtbarer Form hastig zu tun. Eile galt nicht nur als unfein, sie war in der Tat überflüssig, denn in dieser bürgerlich stabilisierten Welt mit ihren unzähligen kleinen Sicherungen und Rückendeckungen geschah nie etwas Plötzliches.« Und keine Katastrophe, kein Krieg draußen reichte auch nur einen Zoll tief in diese eigene Welt hinein, in der Zeit zäher zu laufen schien, bisweilen sogar sozusagen zum Erliegen kam, einfach stehen blieb – bis diese Welt ganz und gar und für immer zerstört wurde.
Das gibt es: unterschiedliches Empfinden für das Vergehen der Zeit. Sagt man nicht, der Mensch habe mit 18, rein subjektiv, die Hälfte seines Lebens hinter sich? Aber in diesen Wochen hat man doch das Gefühl, die Zeit nehme selbst sozusagen Fahrt auf, sie lege einen Zwischenspurt ein. Ein Minister, dem das Volk zu Füßen lag, entpuppt sich in wenigen Tagen als Blender; ein Land, das zu den größten Wirtschaftsmächten des Globus gehört, sieht von einer Stunde auf die andere zu Teilen aus wie eine Müllhalde und ringt mit der Apokalypse; ein Diktator, dem unsere Führer gestern die Wangen küssten, wird von ihnen mit Raketen gejagt; ein Fußballtrainer, der gerade noch Herr auf Schalke war, scheucht zwei Tage später Wolfsburger Profis übers Gras; eine Kanzlerin, die einer festen Meinung war, ist ruckizucki überzeugt vom Gegenteil. Was früher Jahre dauerte, sich endlos hinzog, nie geschah, passiert jetzt in Kürze. Das Plötzliche ist die Regel geworden.
Es gab Tage, nach Erdbeben, Tsunami und GAU, da saß ich vor dem Fernseher, den Namen zerstörter Städte nachlauschend, Minamisanriku, Rikuzentaka, Bilder von flüssigem Schutt betrachtend, von aufschießenden Wolken über einem Kraftwerk, roten Feuerwehrautos in grauer Welt, Menschen auf der Suche nach Häusern, von Autos, wie Kieselsteine vom Wasser aufgeschwemmt. Übrigens eine bizarre Pointe, dass wir in einer Bilderzeit leben, bildersüchtig. Dass aber die größte Gefahr bildlos ist, Kernschmelze, Strahlung, Atom.
Dann gab es andere Tage, da saß ich auch vor dem Fernseher, aber mit einem anderen Gefühl: Kenne ich schon, habe ich gesehen, gibt’s nichts Neues? Knipste aus.
Man gewöhnt sich schnell, das hat Gutes und Schlechtes: Könnte der Mensch sich nicht gewöhnen, wäre er längst nicht mehr da. Auch mit Allerschlimmstem lernt er umzugehen. Andererseits: Ist es nicht bisweilen so, dass man vor dem Fernseher im fernen Grauen anderswo Spannung für den eigenen Alltag sucht? Da wird man sich selbst, wie soll ich sagen?, bisschen unangenehm.
Ein Blick auf die Uhr. Unvorstellbares geschieht, aber die Zeit läuft gleich. Alles andere ist Fantasie. Ruhiger macht einen das gerade nicht.
Ein großes Jubiläum steht bevor: In Kürze wird Axel Hackes 777. Kolumne im SZ-Magazin erscheinen! Aus diesem Anlass möchten wir Hackes Lesern und Fans die Gelegenheit geben, endlich all die Fragen loszuwerden, die sie ihm schon immer stellen wollten. Zum Beispiel: Wann ist Hacke glücklich? Was kühlt Bosch gerade? Steht Hacke für spontane Kurzehen zur Verfügung? Wenn Sie auch eine Frage an Axel Hacke haben, dann schicken Sie sie per Mail an dasbeste@sz-magazin.de – oder natürlich per Post an Axel Hacke, SZ-Magazin, Hultschiner Str. 8, 81677 München. Hackes Antworten erscheinen in einigen Wochen.
Illustration: Dirk Schmidt