Auf dem Siegel des US-Bundesstaates Vermont steht vor schneebedeckten Bergen auf grüner Wiese eine einzelne große Kiefer, daneben eine Kuh. Das Wappen sieht man dort auch auf allen Polizeiautos. Interessant ist nun: Das auf den Fahrzeugen befestigte Symbol wird offenbar stets per Hand angefertigt, und zwar von Insassen des Gefängnisses in der Stadt St. Albans.
Noch interessanter: Ein Gefangener malte einen der Flecke auf dem Fell der Kuh in der Form eines Schweins, dies auf dreißig Polizeiwagen. Pig, Schwein, ist in Amerika eine beleidigende Bezeichnung für Polizist, so ähnlich wie »Bulle« in Deutschland, nein, schlimmer, »Bulle« muss keine Schmähung sein. (Wussten Sie, dass »Bulle« vermutlich seinen Ursprung in einem Wort aus dem 18. Jahrhundert hat, als man die Polizisten »Landpuller« oder »Bohler« nannte? Diese Wörter wiederum stammen vom niederländischen bol, das »Kopf« oder »kluger Mensch« bedeutet.)
Am interessantesten ist aber, dass jenes Schwein auf dem Kuhfell im vergangenen Jahr auf den Autos angebracht, aber erst in diesem Jahr entdeckt wurde. Vorher sah es einfach niemand. Monatelang fuhren Vermonts Polizisten mit einem Schwein auf ihren Autotüren durch die Gegend.
Wir sehen: Bisweilen spielen sich Dinge direkt vor unseren Augen ab, aber wir bemerken sie nicht. So was kommt sehr viel häufiger vor, als man denkt. Beispielsweise konnte man gerade dem Wirtschaftsteil entnehmen, BP habe vergangenes Jahr einen Gewinn von 24 Milliarden Dollar gemacht. BP, ja, das ist der Konzern, der für die Ölkatastrophe im Golf von Mexiko vor nicht mal zwei Jahren verantwortlich ist und dessen Existenz damals infrage stand. Das war ein Skandal, der seinesgleichen suchte. Heute kann BP die Dividende erhöhen. Irgendwie sind die uns aus dem Blickfeld geraten, nicht wahr?
Woran das liegt? Es muss damit zu tun haben, dass unser Blick auf die Welt manchmal müde wird. Es passieren zu viele Dinge, wir sehen mehr, als wir verarbeiten können, der Globus ist ein großes Wimmelbild. Wenn zum Beispiel auf den Polizeiautos in Vermont nur eine große Kuh zu sehen wäre, hätte man das Schwein wahrscheinlich gleich entdeckt. Man sieht aber Berge, Schnee, Grünes, einen Baum, Schatten, auch eine Art Heureiter mit getrocknetem Gras. Oder Stroh? Die Kuh ist klein, das Schwein noch viel kleiner. Es ist auch nur ein Detail auf einem Polizeiwagen. So macht man es am besten, wenn man ins Zentrum eines Skandals gerät: Man versucht irgendwie, zum Detail zu werden. Reagiert nicht mehr, schweigt möglichst viel. Die Leute werden müde, andere Dinge schieben sich ins Bild. Es passiert so vieles, das ist sicher, darauf kann jeder sich verlassen, sogar BP. Die Öffentlichkeit kann wie eine Tarnkappe funktionieren, man kann in ihr abtauchen, wie Dinge auf diesen Suchbildern verschwinden, unter denen steht: In der Zeichnung ist eine Palme versteckt, findest du sie? Und man findet sie eben einfach nicht.
In den vergangenen Wochen begann ich zu denken, dass es mit Christian Wulff so kommen würde. Ich las ja kaum noch, was über ihn geschrieben wurde, auch wenn wieder was mit einer Gratis-Übernachtung auf Sylt war, es war mir wurscht. Er hatte sich fast weggewulfft aus meinem Bild der Welt, das muss man erst mal schaffen. Als Bundespräsident. Bisweilen erschien es mir möglich, dass ich ihn ganz vergäße, im Amt, ohne Amt, egal. Es gibt ja auch Wichtigeres als Bundespräsidenten. Manche unter ihnen sind mir kaum erinnerlich, Carstens zum Beispiel. Lübke nur als Witzfigur. Das Land hat’s überlebt.
Andererseits: Irgendwer hat die leichte Veränderung der Kuh auf den Polizeiautos in Vermont dann doch gesehen. Ganz plötzlich ist sie ihm aufgefallen, dann haben alle hingeguckt, und nun ist sie weg, für immer. Nie wird jemand wieder versuchen, an diese Stelle statt eines Fellflecks etwas anderes zu malen.
So kann’s auch gehen. Manchmal.
Illustration: Dirk Schmidt