Pessimisten haben, so fanden Wissenschaftler bei eingehenden Untersuchungen einer größeren Zahl von Senioren heraus, eine höhere Lebenserwartung als Optimisten – warum? Vielleicht weil sie, hat einer der an dieser Studie beteiligten Professoren gesagt, auf Grund ihrer Erwartung, die Zukunft sei gefährlich und biete nichts Gutes, mehr auf ihre Gesundheit achteten und sich besser vor Gefahren schützten. Auch erschöpften sie ihre Kräfte nicht im Erreichen unrealistischer Ziele wie jene Optimisten, die stets die Ansicht vertreten: Das wird schon.
Der Pessimist, dessen Ehe am Ende ist, resigniert und schont sich dadurch. Der Optimist reibt sich in aussichtslosen Kämpfen auf.
Man kann also sagen: Pessimisten hätten allen Grund, optimistisch in die Zukunft zu blicken.
Wahrscheinlich werden, langfristig gesehen, die Optimisten überhaupt ganz aussterben, denn wenn sie immer früher zu Grab getragen werden, vererben sich die Gene der Pessimisten besser, und die Welt wird bald von uralten, schlecht gelaunten Schwarzsehern bevölkert sein, die sich gegenseitig ihr langes Leben vermiesen.
Übrigens frage ich mich gerade, ob es überhaupt noch eine Zukunft geben wird. Der Amazon-Chef Jeff Bezos hat neulich in der Talkshow des amerikanischen Moderators Charlie Rose gesagt: »Was gerade im Büchergeschäft passiert, ist nicht Amazon, das ist die Zukunft.« Das ist ein Satz von großer Tiefe, bedeutet er doch, dass wir zurzeit nicht in der Gegenwart, sondern in der Zukunft leben, was zweifellos richtig ist. Bruno, mein alter Freund, erzählte zum Beispiel, er habe kürzlich in der U-Bahn auf dem Bildschirm seines Handys per Live-Stream die Arbeit eines Astronauten im Weltall beobachtet und dabei gedacht: Das kann nicht die Gegenwart sein, das ist reiner Futurismus, was hier geschieht.
Andererseits muss man sagen: Die miserablen Arbeitsverhältnisse der Leute, die bei Amazon angestellt sind, das Verhalten jenes Mannes namens Travis Kalanick, der mit seinem Unternehmen namens Uber die Taxibranche überfährt und die dort Arbeitenden »Arschlöcher« nennt, die Produktionsbedingungen, unter denen in der Dritten Welt die Mobiltelefone gewisser Firmen hergestellt werden – das alles klingt irgendwie nach rauen, vorindustriellen Zeiten. Wir leben also gegenwärtig in der Zukunft, aber von gewissen technischen Gegebenheiten abgesehen, ist diese Zukunft offensichtlich reine Vergangenheit.
Übrigens lässt sich die erwähnte Zukunft mit Algorithmen, die alle vergangenen Verhaltensmuster eines Menschen berücksichtigen, auch immer besser berechnen. Das heißt, man weiß mittlerweile schon vorher, wann in welchen Gegenden welche Verbrechen begangen werden, ja, vor der Tür eines 22-Jährigen in Chicago standen vor einer Weile Polizisten, die ihm mitteilten, er werde entweder bald jemandem erschießen oder selbst erschossen werden; das ergebe sich schlüssig aus der Tatsache, dass er wegen Cannabisbesitzes aktenkundig sei und ein Freund von ihm ein Jahr zuvor erschossen worden sei. Solche Leute seien immer gefährdet oder gefährlich.
Nun ist zwischen Erschießen und Erschossenwerden ein gewisser Unterschied, aber solche Prognose-Ungenauigkeiten werden gewiss beseitigt. Was mich beunruhigt, ist, dass die Polizei bei mir klingeln könnte, um mir mitzuteilen, ihr sei bekannt geworden, dass ich in wenigen Stunden zu schnell fahren würde: Hier sei schon mal das Strafmandat. Dass ich also bereits in der Gegenwart für etwas bestraft werde, was ich zukünftig erst noch tun muss, aber offensichtlich auch tun werde – es gefällt mir nicht. Die schöne Ungewissheit, die einst mit der Zukunft verbunden war: dahin. Alles ist auszurechnen, alles ist bekannt, Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft sind eins.
Ist das nicht schlimm? Ich bin sehr pessimistisch gestimmt. Also freue mich auf viele schöne Jahre.