Das Beste aus aller Welt

Allein schon die vielen Passwörter, die sich jeder heutzutage merken muss! Inspiriert von einem indischen Gedächtniskünstler fragt sich Axel Hacke, wieviel heutzutage überhaupt noch in unsere überlasteten Gehirne reinpasst.

Bitte, lieber Leser, lesen Sie die folgenden vier Absätze sehr sorgfältig. Prägen Sie sich jedes Detail gut ein!

Kürzlich war ich sehr beeindruckt von der Leistung des indischen Mönchs Munishri Ajitchandrasagarji, eines Schülers des Gurus P. P. Acharya Nayachandrasagarji.

Munishri Ajitchandrasagarji saß in Meditationshaltung (oder nennen wir es ruhig »Schneidersitz«) auf einem Podium im Sardar Vallabhbhai Patel-Stadion in Mumbai vor einem Publikum von 6000 Leuten. Menschen, einer nach dem anderen, trugen 500 Dinge zu ihm. Sie zeigten ihm einen Alltagsgegenstand oder eine mathematische Formel, auch sprachen sie vielleicht einen Satz in einer von sechs verschiedenen Sprachen. Nummer 500 war die Zahl 100 008.

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Munishri Ajitchandrasagarji nahm dies alles jeweils sorgfältig zur Kenntnis. Von der Morgendämmerung bis in den Nachmittag hinein sickerten 500 Dinge in sein Gedächtnis.

Als dies vorbei war, zählte er alle 500 in der richtigen Reihenfolge korrekt auf; nur einmal, bei Nummer 81, musste er sich eine kurze Notiz machen, aber nach einer Weile konnte er auch diesen Gegenstand benennen.

Nun bitte, lieber Leser, beantworten Sie folgende drei Fragen, ohne die drei vorhergehenden Absätze noch einmal anzusehen: Wie heißt der Mönch, der diese Leistung vollbrachte? Wie ist der Name seines Gurus? Wie nennt man das Stadion, in dem dieser Gedächtnis-Weltrekord erzielt wurde?

Tja.

Ist es also nicht wunderbar, welche Fähigkeiten Munishri Ajitchandrasagarji, Schüler von P. P. Acharya Nayachandrasagarji, im Sardar Vallabhbhai Patel-Stadion demonstrierte? Großartiger als jeder 100-Meter-Weltrekord, jedes 7:1 gegen Brasilien? Der Guru sagt: Man muss das eigene Bewusstsein durch Meditation leeren. Nur so sei man in der Lage, zum Erinnerungsgefäß zu werden.

Dieser Weg ist natürlich dem Normalbürger versperrt, ja, man könnte vielleicht sogar die These vertreten, das Gefühl nachlassender Merkfähigkeit, an dem so viele Menschen leiden, habe eher damit zu tun, dass an den meisten von uns Tag für Tag weit mehr als 500 Dinge vorbeigetragen werden. Sind wir nicht mit einer solchen Überfülle von Ereignissen, Gegenständen, Zahlen, Daten, Vorgängen und Personen konfrontiert, dass man sich das alles beim besten Willen gar nicht merken kann? Ist also in Wahrheit nicht unser Erinnerungsvermögen zu klein, sondern die Welt zu groß geworden?

In der New York Times las ich, der durchschnittliche Amerikaner verfüge heute über 81 Passwörter für die unterschiedlichsten Zwecke: Eigene Computer, Internetseiten, ja, selbst manches Thermostat daheim verlangten schon ein solches; vor fünf Jahren seien es nur 21 derartige Zugangsbegriffe gewesen. In einer detaillierten Untersuchung förderte die Zeitung zutage, dass es zwar Digitalnudisten gebe, die für alle Zwecke ein simples Passwort hätten, »password« vielleicht oder der Name der eigenen Frau.

Dass aber andererseits ein Blick in die Welt der Passwörter auch ein sehr tiefer Blick in die Gefühlswelt der meisten Menschen sei. Nur ein Beispiel: das jener Frau, die grundsätzlich als Bestandteil ihrer Passwörter die Zahl 4622 benutzt – warum? Weil ihr Vater als Junge seine Adresse, 4622 South 28th West Avenue, immer in einem Atemzug quasi singen musste; sonst hätte ihn, einen Hünen von Kerl und begabten Football-Spieler, nämlich sein Stotterleiden überwältigt. So erinnerte sich diese Frau Tag für Tag an die Zerbrechlichkeit und Stärke ihres Vaters.

Übrigens ist, so las ich, der am häufigsten in Passwörtern verwendete Begriff das Wort Love, und sei es in Zahlenkombinationen wie 14344, einem Synonym für I love you very much, denn es handelt sich einfach um die Reihung der Zahlen von Buchstaben pro Wort.

Munishri Ajitchandrasagarji kann im Training schon 800 Gegenstände memorieren, sein Ziel sei die 1000, sagte er.

5342323!
Peace and Love to all of you!

Illustration: Dirk Schmidt