Ich saß in der Küche, trank noch ein Bier und dachte an Sophie, die morgens beim Frühstück gesagt hatte: »Gell, Papa, heute ist morgen?« Solchen Feststellungen und Fragen sieht man sich bisweilen schon vor dem ersten Kaffee gegenüber, wenn man kleine Kinder hat.
Menschen, die kleine Kinder haben, neigen ja, während sie mit müder Hand zur Kaffeetasse greifen, zu dem Gedanken: »Ach, wenn doch heute schon morgen wäre, wenn meine kleinen Kinder nur schon ein wenig größer wären, sodass ich nicht mehr nachts an ihr Bett eilen müsste, um eines ihrer Bedürfnisse zu befriedigen, und wenn ich nicht mehr so viel Kaffee saufen müsste, um irgendeinen, wenn auch nur bescheiden-klaren Gedanken fassen zu können…« Und wenn dann eines Morgens morgen ist, wenn die kleinen Kinder größer sind und in der Frühe nur mit rauen Befehlen aus dem Bett herausgerufen werden können und dann mit angewidertem Gesicht ihr Frühstücksbrot betrachten, dann also denken dieselben Eltern: Ach, wie schön war’s, als die Kinder kleiner waren, als sie Fragen von großer Tiefe stellten und nicht zur Schule mussten! Ach, wäre heute gestern, nur für einen Tag!
So ist der Mensch, nie kann man’s ihm recht machen; so war er immer, gestern, heute Morgen und heute Abend, und übermorgen wird er immer noch so sein.
Die Sophie hatte gemeint: dass wir ihr gestern gesagt hätten, »morgen« würden wir mit ihr in den Zoo gehen. Nun, heute, sei dieses »morgen« eben da. Das war es auch, wir gingen in den Zoo, wie wir schon oft in den Zoo gegangen sind und noch oft in den Zoo gehen werden.
Ich nahm einen Schluck Bier. Ich hatte schon im Biergarten nach dem Zoo-Besuch eine Maß getrunken und später daheim noch ein Bier. Jetzt nun dieses hier. Mir war, wie soll ich sagen?, angenehm zumute. »Bist du eher ein Mensch des Heute, des Morgen oder des Gestern?«, fragte ich Bosch, meinen sehr alten Kühlschrank und Freund.
(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Man denkt beim Anfangen schon ans Aufhören. Wie schwer es sein wird. Deshalb habe ich nie angefangen zu rauchen, Gott sei Dank.)
»Ich bin gar kein Mensch«, sagte er. »Ich war nie einer.«»Das hatte ich vergessen«, sagte ich.
»Meine Welt ist die Vergangenheit«, sagte Bosch. »Vom Morgen habe ich nichts zu erwarten als den Wertstoffhof, und das Heute bietet mir nichts als Angst vor morgen.«
»Manchmal hätte ich gerne einen Kühlschrank«, seufzte ich, »der mich abends emotional nicht so runterzieht.«
»Kannst ja Schluss machen, steht in deiner Macht.«
»Ich mache nicht gern Schluss, mit gar nichts und mit dir sowieso nicht. Ich kann mich schlecht trennen. Mein Keller ist voll von Sachen, die ich nicht wegwerfen konnte.«
»Anfangen tust du aber auch nicht gerne«, sagte Bosch. »Wenn ich mich recht entsinne…«
»Das ist logisch«, sagte ich. »Man denkt beim Anfangen schon ans Aufhören. Wie schwer es sein wird. Deshalb habe ich nie angefangen zu rauchen, Gott sei Dank.«
»Sieht aus, als wärst du ein Mensch, der das Heute schlecht ge-nießen kann.«
»Wenigstens bin ich kein Kühlschrank.«
»Sei froh«, sagte Bosch.
Ich stand auf, gab ihm einen Klaps auf die Tür und machte eine Runde durch die Wohnung. Alle schliefen, Luis und Sophie, auch Paola. Wenig später schlief ich selbst. Ich träumte, wie wir zu viert auf meinem Kühlschrank in den Sonnenuntergang ritten.
Mit diesem Text endet nach fast elf Jahren und 544 Folgen Axel Hackes Kolumne »Das Beste aus meinem Leben«.
Vom nächsten Heft an schreibt er »Das Beste aus aller Welt«.
Illustration: Dirk Schmidt