Mit Bruno, meinem alten Freund, machte ich einen Spaziergang an der Isar. Wir warfen Steine ins Wasser, unsere Atemwölkchen stiegen in die klare Winterluft, und Bruno sagte, er habe gelesen, dass der Grönlandhai »der Methusalem unter den Wirbeltieren« sei; dieses Tier könne mehr als 400 Jahre alt werden. Älter würden, so Bruno, nur der Riesenschwamm Anoxycalyx joubini, der es auf 10 000 Jahre bringe, und das Seegras Posidonia oceanica, dessen Felder sich bisweilen über 15 Kilometer ausdehnten, ein einzelner Organismus, der durchaus seinen 100 000. Geburtstag erreiche. Aber das seien ja keine Wirbeltiere, rief Bruno, und folglich lebe irgendwo im Nordpolarmeer ein greiser Grönlandhai als ältestes Tier der Welt.
Wir schwiegen eine Weile, der Schöpfung Respekt zollend.
Mit dem Grönlandhai, sagte Bruno dann, verbinde ihn momentan ein intensives Empfinden, sozusagen das Jahresendgefühl 2016: Man würde jetzt gern weit entfernt vom Weltengrusel herumschwimmen, über sich hundert Meter Meer und eine Eisdecke. Ab und an führe piepend ein Atom-U-Boot vorbei, ein Eisbär winke von der Wasseroberfläche herunter, eine Quallenschar schwebe ihrer Wege, klares Wasser zöge durch die Kiemen, ansonsten gehe einem die Welt am Hai-Hintern vorbei.
Er summte, aufs rasch fließende Isarwasser starrend: »Ich möchte ein Haifisch sein im kalten Polar, dann müsste ich nicht mehr schrei'n, alles wär' so klar.«
2016, sagte ich, sei auch insofern das Jahr des Grönlandhais, als man das Gefühl habe, es habe länger als andere Jahre gedauert, ja, es sei ein Methusalem unter den Jahren, von denen manche verflögen wie eine leichte Brise, andere sich zäh zögen wie miserables Püree. Während es Jahre mit kaum einem einzigen Tag von bleibender Bedeutung gegeben habe, fügte ich an, habe man heuer jede Woche von Schicksalsmomenten gesprochen, vom Brexit bis zur sich wieder- und wiederholenden Österreich-Wahl, von der Italien-Abstimmung bis zur Geburt des Trumpismus. Und wenn es ein Wort des Jahres gegeben habe, dann sei es der Begriff Schicksalsmoment, rief ich, man verschone uns eine Weile mit Schicksalsmomenten, bitte!
»Ich fürchte«, sagte Bruno, »2017 wird ein einziger langer Schicksalsmoment.«
»Ich kann es jetzt schon nicht leiden.«
»Kann sein, dass ich Silvester um neun schlafen gehe«, sagte Bruno. »Dieser Jahreswechsel ist es nicht wert, dass man ihn bei Bewusstsein erlebt.«
»Wusstest du, dass Grönlandhaie zur Familie der Schlafhaie gehören? Und dass es überhaupt sehr viele verschiedene Haie gibt?« Ich hatte, nebenbei im Smartphone suchend, im Internet eine Seite mit den Namen aller Haie der Welt entdeckt. »Fransenteppichhai!«, las ich, »Geister-Katzenhai, Spatelnasenkatzenhai, Schlankhai, Schweinsaugenhai, der Nervöse Hai, der Verschmierte Laternenhai, Zitronenhai, Milchhai, Schokoladenhai, Zigarrenhai, Wenigzahn-Dornhai, Gemeiner Engelhai, wer denkt sich das aus?«
»Auch als Immobilien-Hai kann man es neuerdings weit bringen«, sagte Bruno, der nun ganz nah am Isarufer stand, fast mit einem Fuß im Wasser. »Und wenn man bedenkt, dass es vielleicht dort oben im Norden einen Hai gibt, der schon im Jahr 1600 lebte, als Heinrich IV. in Lyon Maria de' Medici heiratete, als der walachische Fürst Mihai Viteazul den Woiwoden Ieremia Movil˘a aus dem Fürstentum Moldau vertrieb, und der Vulkan Huaynaputina in Peru explodierte, mit verheerenden Folgen für Südamerika ... Dem Hai war alles scheißegal. Ist das nicht wunderbar?«
»Hai-Sein ist doch keine Lösung«, sagte ich, aber da fiel mir auf, dass Brunos Zähne ganz spitz geworden waren, sein Kinn sich nun verflüchtigte, seine Augen an die Seite des Kopfes rutschten ... Als er sich zur Isar wandte, sah ich auf seinem Rücken eine Flosse aufragen.
»Bruno!«, rief ich. »Lass uns wenigstens noch Silvester ...« Aber da war er schon in die Isar gesprungen, und das Letzte, das ich von ihm sah, war eben diese Flosse, die eilig flussabwärts strebte, Richtung Nordmeer.