Kannibalismus am Mittelmeer

Es gibt Gegenden in Europa, da ist die Menschenfresserei noch gang und gäbe. Oder warum sonst stünde in Menorca ein »Gebratener Seemann« auf der Speisekarte?

Nun, da die Sommerurlaubszeit zu Ende geht, wird es Zeit, einen Blick auf die Leserpost aus aller Welt zu werfen, insbesondere die im Briefkasten Oberst von Huhns, dessen Adjutant ich seit Jahren bin. Der Oberst ist auf interessante Speisekarten spezialisiert, auf deren Übersetzung und die dabei entstehende Poesie. In diesem Jahr gilt sein besonderes Augenmerk der weltweit zunehmenden Menschenfresserei. Höchste Instanzen sollten aufmerken!

Denn wer beschreibt das Erschrecken, als wir auf einer Menü-Liste aus Valencia »Hingestreckte Grundeigentümer« entdeckten? Wobei der Grundeigentümer-Verzehr so weit geht, dass auch mobiler Besitz gegessen wird, zum Beispiel als Gericht namens »Tablett des Nachtischgrundeigentümers«, wozu mir der Titel eines Buffets beim Chinesen in Odense/Dänemark einfällt: Eat what you can! Ein Motto, das auch für »Babylätzchen mit Pesto« gilt, die Familie W. auf einer Karte in Peschiera del Garda fand.

In weiten Teilen der Welt steht der Mensch als Ganzer auf der Karte: »Gebratener Seemann« auf Menorca oder »Miss Muscheln« in Kreuzberg, die vielleicht noch gestern in einer Schönheitskonkurrenz obsiegte, heute aber schon in die Pfanne gehauen wurde. Auch die »Sardinnen« in Neustadt an der Weinstraße gehören in diese Kategorie. Zusammen mit ihren Männern sind sie im englischen Teil einer Karte aus Murano sogar als Sardinians with onions and vinegar verzeichnet, es handelt sich aber um die venezianische Vorspeise Sarde in saor, zu der Rosinen und Pinienkerne gehören. Was ein einzelner Buchstabe ausmacht! Denn »Sarden mit Zwiebeln und Essig« wären auf Italienisch in Wahrheit Sardi in saor. Hingegen: Sarde sind Sardinen.

Meistgelesen diese Woche:

Der Bürger in seiner Gänze, man trifft ihn als Hambürger, Käsebürger, Huhnbürger, Rindbürger und Fischbürger (nur nicht als Wutbürger) in Puerto Calero auf Lanzarote oder als »Hungary Man« in Trutnov/Tschechien. Bürgerinnen sieht man als »selbst geräucherte Jungfern« in Budapest und als »Riesiger Wienerschnitzel aus Jungfernbraten mit Petersilienkartoffeln«, ebenfalls in Ungarn. Im Original heißt das Óriás bécsiszelet Szüzpecsenyéböl petrezselymes burgonyával, was, habe ich mir sagen lassen, nicht mal falsch übersetzt sei, Szüzpecsenye heiße Jungfernbraten. (Und jetzt alle: Szüzpecsenyéböl, Szüzpecsenyéböl, Szüzpecsenyéböl – danke!).

Der Mensch dient bisweilen auch nur als Beilage, auf Teneriffa etwa, wo »Fisch mit geknitterten Päpsten« angeboten wird, oder in Sonthofen als »Dönerteller mit Putinfleischsalat«. Putin, der Austrainierte, Zähe! Wird da der Zahnstocher mitgeliefert wie beim »Senioren-Lamm« in Essen? Bei der »Kickerfrikadelle« auf Rhodos hofft der Kenner auf A-Jugend-Spieler, nicht gealterte Bundesligisten vom Ende der Transferliste. Und hier: eine »Lahmkeule«! Leser H. fand sie in der Kantine vor (auf der Karte, hoffentlich nicht auch auf dem Teller). Vor Jahren wurde in München »Gebraten Hackefleisch« angeboten. Wir haben daheim durchgezählt und aufgeatmet.

Am Ende dieses tristen Kapitels sei darauf hingewiesen, wie Zeitgenossen aber auch in ihren Teilen zubereitet werden: als »Frittierte Ganzbeine mit Rotkraut« in Siebenbürgen, als »Hinterteil Braten mit Waldpilzen aromatisiert« in Riva del Garda, als »1/2 knuspriges Händchen« in München. Beim »Schmollmund« auf Fuerteventura dürfte es sich um eine Vorspeise gehandelt haben, aber was um alles in der Welt sind »Baby Lebensräume« in Tarragona?

Und Leser K. aus Augsburg entdeckte in der Kochanleitung eines Reisgerichts dieses als dritten Schritt des Rezepts: »Furunkel, einmal umrühren, den Deckel auf 5 Minuten köcheln lassen«. Unfassbar schließlich, was auf der Getränkekarte in Marienbad stand! Spermuta. Man kann sich nur mit der Erkenntnis beruhigen, dass es sich um einen Tippfehler gehandelt haben könnte; eine Spremuta ist im Italienischen ein frisch gepresster Fruchtsaft.

Zum Schluss sei erwähnt, dass in Wiesbaden »Heisse Schussel« auf der Karte stehen.

Illustration: Dirk Schmidt